Berlin: Wo Hessel wandert und Rocky zapft
Er nennt sich Stadterzähler und sagt: Hier kann man ein Leben lang auf Entdeckungstour gehen. Carl-Peter Steinmann liefert die Anleitung für Sonntagsspaziergänge.
Eines ist sicher, wenn man mit diesem Mann loszieht: Es gibt wohl kaum eine Berliner Straße, in der Carl-Peter Steinmann nicht spannende Geschichten erzählen kann über Gebäude am Wegesrand und Menschen, die dort einst lebten. Blaue Jeans, saloppes Cordjacket, der bunte Seidenschal locker um den Hals geschlungen. So steht er jetzt vor dem Haus an der Wildensteiner Straße 18 in Karlshorst, zupft sich am weißgrauen Bart, blickt zu den Fenstern der modernisierten Gründerzeit-Villa und sagt: „Dieses Haus gehörte in den frühen 20er Jahren dem Volksbeglücker Max Klante.“
Und schon gehts los: Also, Max Klante, der finanzierte damals einen hochkarätigen Pferderennstall mit riskanten Wetten auf den Berliner Pferderennbahnen. Hohe Summen sammelte er dafür von Anlegern ein, denen er märchenhafte Renditen versprach. Anfangs klappte das prima,. Klante, der Aufsteiger, avancierte zum populären Promi in Berlin. Aber dann verzockte er sich, ging pleite. Viele verloren mit ihm ihr Kapital.
Begleitet man den 67-jährigen Stadterzähler, wie Steinmann sich nennt, zu vertrauten Straßen, die man gut zu kennen glaubt, so macht er auch daraus eine Entdeckungstour. Beispielsweise in der Fasanenstraße am Ku’damm vor dem Literaturhaus. Schon gewusst, dass in diese Klinkervilla 1874 der Abenteurer und Kapitän Richard Hildebrandt mit seiner frisch angetrauten Gemahlin einzog? Zuvor hatte er nach einem Schiffbruch am Nordpol neun Monate auf Eisschollen überlebt. Und weiter zum Stopp Fasanenstraße 13, Künstlerhaus St. Lukas. „Hier wohnte einst Käthe Kruse und bastelte für ihre Kinder erste Puppen.“
Zu Pferdezocker Klante, Puppenmutter Kruse, Käpt’n Hildebrandt und vielen anderen interessanten Berlinern kann man jetzt auch alleine losziehen mit Steinmanns neuem Buch „Sonntagsspaziergänge 2“. Entdeckungen in Charlottenburg, Friedrichshain, Gesundbrunnen, Grunewald, Karlshorst und Prenzlauer Berg. 2011 veröffentlichte er bereits einen ersten Band mit sonntäglichen Bummeln durch andere Bezirke. Ganz im Sinne des Berliner Flaneurs der Zwanziger Jahre, Franz Hessel. Der liebte gleichfalls diesen Mix aus Neugier, Abenteuerlust und luxeriösem Umgang mit der Zeit.
„Jahrelang galten ,Sonntagsspaziergänge ja als piefig“, sagt Steinmann. Er will sie wiederbeleben. „Ist doch ’ne tolle Sache für alle, die gerne gesellig losziehen“, schwärmt er. Stoff gibt es genug. „In unserer Stadt kann man ein Leben lang auf Entdeckungstour gehen.“ Solche Berlinsafaris erkundet er auch für Führungen, die er anbietet. Auch für die jährlichen Ausflugsserien des Tagesspiegels hat Steinmann etliche Stadtspaziergänge gestaltet.
Aufgewachsen als Kreuzberger Junge, trieb es Steinmann in jüngeren Jahren erst in die Ferne. Er durchquerte per Anhalter Afrika, fuhr auf einer Zündapp nach Indien. 1971 gründete er mit seiner Frau Birgit „Daniel’s Tea House“ in Steglitz. Als das Geschäft gut lief, verkauften sie es 1985. Seither widmet sich Carl-Peter Steinmann professionell seiner großen Leidenschaft Berlin. Den Keim für diese Begeisterung hatte lange zuvor Kurt Pomplun gelegt, der in den 60er/70er Jahren im Rias unter dem Motto „Kutte kennt sich aus“ sehenswerte Berliner Orte vorstellte. „Mit 16 war ich ein Pomplun-Fan“, sagt Steinmann.
In den 80er Jahren war er ein Pionier der Audiotouren, produzierte die Serie „Berlin im Ohr“, damals noch auf Kassette. Dann entdeckte er seine Vorlieben für Gauner und für Friedhöfe, gründete mit anderen die „Interessengemeinschaft Historische Friedhöfe Berlin“, führt seither über Ruhestätten und macht die Verstorbenen durch seine Erzählungen über ihr Leben wieder ein bisschen lebendig. Und er ist Experte für Raube, Morde, aber besonders für die pfiffigen Gaunerstücke kleiner Ganoven in Berlins Kriminalgeschichte. Für Menschen, die wie Max Klante „aus dem Nichts heraus verrückte Ideen durchziehen und eine Blitzkarriere machen, bis alles auffliegt.“ Über die Schattenseiten der Stadt hat er gleichfalls Bücher geschrieben: : „Von wegen letzte Ruhe“ und „Tatort Berlin“.
Steinmanns Ganovensammlung ist so reichhaltig, dass er auf jeder Tour ein paar Kandidaten parat hat. An der Grolmannstraße in Charlottenburg bleibt er vor einem hell verputzten Wohnhaus stehen. „Hier zapfte mal der Boxer Rocchigiani Bier in der Kneipe seines Bruders Ralf, die 2007 geschlossen wurde. Rocky half am Tresen aus. Die Polizei hat ihn ja öfter ohne Führerschein am Steuer oder bei Gewalttätigkeiten erwischt.“
Um die Ecke, an der Knesebeckstraße 12, schrieb seit 1914 die Schriftstellerin Hedwig Courths-Mahler ihre sentimentalen Liebesromane. Und an der Kantstraße 152 zeigt Steinmann auf eine Gedenktafel. Hier war von 1927 bis 1933 die Redaktion der von Carl von Ossietzky herausgegebenen radikaldemokratischen „Weltbühne“. Zu den Promis der Weimarer Republik führt Steinmann hingegen in Grunewald. Ein Spaziergang von Villa zu Villa, auch zur Douglasstraße 10. In diesem Mietshaus lebte bis zur Emigration 1933 der Theaterkritiker Alfred Kerr mit seiner Familie. Steinmann holt ein Taschenbuch hervor. ,Als Hitler das rosa Kaninchen stahl’“ von Kerrs Tochter Judith. Er liest aus den ersten Seiten vor. Die Geschichte beginnt genau hier, in diesem Haus.
Weitere Informationen zum Autor und Führungen gibt es unter:
www.berlin-ver-fuehrungen.de
— Carl-Peter Steinmann: Sonntagsspaziergänge 2. Entdeckungen in: Charlottenburg, Friedrichshain, Gesundbrunnen, Grunewald, Karlshorst und Prenzlauer Berg. Transit-Verlag,
144 Seiten, 16,80 Euro.
Christoph Stollowsky
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