Eine Jugend als Jude im Wedding: "Wir zogen jeden Tag in den Krieg"
Arye Shalicar wuchs als Sohn iranischer Juden im Wedding auf - und wusste nicht, wohin er gehörte. Im Interview mit dem Wedding Blog vor zwei Jahren sprach er über Gangs, Gewalt und sein neues Leben in Israel.
Erst Opfer, dann Täter, dann Auswanderer. Spandau – Wedding – Israel. Die Geschichte von Arye Sharuz Shalicar ist eine in drei Akten. Im Wedding der 90er Jahre wächst er auf – als Sohn iranischer Juden. Von den meisten muslimischen Jugendlichen wird er daher verachtet und immer wieder gedemütigt. Bis er selbst einer von ihnen wird, Mitglied in der türkischen Jugendgang Black Panthers. Sprühen, Klauen, Messerstechereien - Arye macht Weddinger Karriere. Mit Anfang 20 zieht es ihn weg. Nach Israel, wo er heute als Armeesprecher arbeitet.
Arye, fangen wir hinten an: Warum verspürten Sie mit Anfang 20 den starken Drang, den Wedding zu verlassen und nach Israel zu gehen.
Während meiner Jugendzeit habe ich mich fremd gefühlt. Ich war der einzige Jude unter sehr vielen Muslimen. Da bist du nicht wirklich Teil dieser Weddinger Geschichte. Die Mehrheit waren Türken, Araber, Kurden, Palästinenser oder Libanesen. Irgendwann sagst du dir, du wirst nie Teil dieser Sache. Du fühlst dich zwischen allen Stühlen, wirst von jedem als etwas Fremdes angesehen.
Aber warum Israel? In Ihrem Buch »Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude« beschreiben Sie selbst, dass Sie lange gar keinen wirklichen Bezug zum Judentum hatten, zu Ihrer Herkunft.
Vor allem in den ersten zwei, drei Jahren im Wedding wurde ich sehr angefeindet, und zwar nicht als Jude, sondern auch als Israeli. Das wurde gleichgesetzt. Wenn du immer wieder das Wort 'Israel' hörst, machst du dir langsam Gedanken: Vielleicht gehöre ich da wirklich hin, wie alle sagen? Als kleiner Junge dachte ich immer: Italien, Israel, das ist ungefähr dasselbe. Schönes Wetter, schöne Frauen, schönes Meer..
Bis er zwölf ist, wohnt Shalicar mit seinen Eltern in Spandau. Eine unbeschwerte Kindheit. Als die Familie kurz vor dem Fall der Mauer in den Wedding zieht, ist es vorbei mit der Sorglosigkeit. Die Herkunft und Religion spielen plötzlich eine große Rolle. "Bist du Muslim?" die erste Frage. Neutral zu sein, geht nicht mehr. Jeder Tag ein Spießrutenlauf.
Welche Stimmung herrschte unter den Jugendlichen im Wedding der 90er Jahre?
Bestimmte Ecken waren supergefährlich, besonders rings um die Schulen. Die Gangs hatten ihre Reviere. Auf der Stettiner Straße, Ecke Bellermannstraße, waren die Kangals, an der Koloniestraße, Ecke Soldiner die Kolonie Boys und am Nauener Platz die Black Panthers, mit denen ich später zu tun hatte. Die Biesentaler Straße wurde von 20, 30 aggressiven Jugendlichen regiert. An der Ecke Gotenburger haben sich jeden Abend die PLO-Boys gesammelt. Da hattest du dann zwischen fünf und 30 Typen, an denen du nicht einfach so vorbei laufen konntest.
Was passierte, wenn man doch vorbei musste?
Es hat gereicht, wenn dich einer von der anderen Seite sieht und ruft: Aro, komm mal rüber. Du hast dann keine große Wahl. Wegrennen geht nicht, weil sie dich eh finden. Weiterlaufen auch nicht, dann kriegst du sowieso eine drauf. Und wenn du rübergehst, eigentlich die einzige Wahl, wirst du auch irgendwie fertig gemacht. Das war die Atmosphäre, bevor ich mit reingegangen bin.
Das Interview mit Arye Shalicar führen wir telefonisch, in Berlin ist er nur noch selten, auch sein Bruder wohnt mittlerweile in Israel, seine Schwester in Frankreich. Die Eltern pendeln zwischen den drei Ländern. Shalicar hat eine helle, freundliche Stimme, der alte Weddinger Slang macht die Zischlaute im Deutschen noch immer sehr weich. Irgendwann fängt im Hintergrund ein Baby an zu schreien.
Sie mussten sich immer wieder als „Drecksjude“ beschimpfen lassen. Irgendwann aber waren Sie Teil dieser Welt, Sie machten gemeinsame Sache mit diesen Leuten, waren von ihnen vermeintlich akzeptiert. Die Beleidigungen müssen Sie aber noch gut in Erinnerung gehabt haben.
Tja, es ist eine Art Doppelleben. Es wusste ja auch keiner von denen aus den Gangs, dass ich auf dem Gymnasium bin. Und die meisten meiner Mitschüler wussten nicht, dass ich kriminell bin.
Am Anfang halten die Türken und Araber ihn, den Iraner mit den dunklen Haaren, für einen von ihnen. Als er einem Klassenkameraden seinen Davidsstern zeigt, spricht der kein Wort mehr mit ihm. Von einem Tag auf den anderen ist er der verhasste Jude. Später macht er sich als Sprayer einen Namen, wird Mitglied in einer der größten Türkengangs Deutschlands, spricht türkischen Slang.
Äußerlichkeiten scheinen damals eine große Rolle gespielt zu haben.
Auf jeden Fall. Es ist alles Show. Wie verkaufst du dich? Gerade in diesen Bezirken, mit all der Gewalt, Kriminalität und Aggressivität, wo die Menschen mit 15 schon Drogen verkaufen und mit dem Messer in der Tasche rumlaufen, da musst du nach außen etwas spielen, was du gar nicht bist. Ich habe sehr viel gespielt.
Warum sind Sie in die Gangszene eingetreten?
In erster Linie, um meine Familie zu schützen. Ich hatte sehr viele Beleidigungen ertragen müssen, drei-, vier Mal wurde ich auch körperlich angegriffen, aber vor allem mit Wörtern. Das tut sehr weh, wenn du 13, 14 bist.
Die Schlüsselfigur für Ihren Seitenwechsel von Opfer zu Täter heißt in ihrem Buch Husseyn, Mitglied eines einflussreichen kurdisch-libanesischen Clans. Warum hat Husseyn Sie, den Juden, nicht gehasst?
Dass ich mit Husseyn eine Art Bruderliebe hatte, zeigt mir bis heute, dass man nicht sagen kann: Alle Araber oder alle Deutschen. Es gibt immer Ausnahmen. Es interessierte ihn einfach nicht, ob ich Jude war oder nicht. Er war da genauso wie ich. Bis ich in den Wedding gezogen bin, hatte ich ja nie über Identität, Religion oder Volkszugehörigkeit nachgedacht. Husseyn hat mehrfach aktiv für mich Partei ergriffen und gesagt: Aro ist einer von uns, behandle ihn als Weddinger.
Im Buch sagt Husseyn: „Wir leben in Deutschland und sind der letzte Abschaum Berlins. Wir stecken alle im selben Topf. Wir sind alle nur arme Weddinger, ob du, ich oder Aron. Denk mal drüber nach!“ Der Wedding: Ersatznation für die Chancen- und Staatenlosen.
Sie haben sich damals die „65“ auf Ihre Bomberjacke genäht, die alte Weddinger Postzustellnummer.
Es war so, als hätte man sein eigenes Land erobert. Nicht nur wir Weddinger, auch die Kreuzberger oder Schöneberger: Man hat diese Bezirksidentität entwickelt. Es gab ja auch Schlägereien zwischen den Bezirken.
Irgendwann hatten Sie immer ein 15 Zentimeter langes Messer und eine Gaspistole in der Tasche.
So sind alle rumgelaufen. Fast jeder Weddinger hatte eine Gaspistole, Messer und Schlagring. Wir waren voll ausgerüstet. Du bist mit 16 rumgelaufen, als ob du jeden Tag im Krieg bist.
Im Vorwort bitten Sie Ihre Eltern und Ihre Jugendliebe Janica um Verzeihung, dass Sie „von ihnen gehen mussten“. Eine Formulierung wie von einer Trauerfeier.
Ich wusste, dass das nicht gut zu Ende gehen würde. Obwohl ich gespürt habe, dass mich vor allem meine Mutter und meine Freundin sehr geliebt haben, musste ich diese Tür hinter mir zumachen - für mein Überleben. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis irgendetwas Dramatisches passiert wäre. Man geht ja ständig direkt am Abgrund. Einmal falsch reagieren, und man sticht einen ab oder wird selbst abgestochen, einmal bei der falschen Sache dabei sein, und man geht für Jahre ins Gefängnis.
"Die Leute in Israel litten genau wie ich im Wedding"
Ausgerechnet während Ihrer Zeit bei der Bundeswehr kamen Sie zu dem Entschluss, Deutschland verlassen zu müssen.
Da konnte ich das erste Mal in Ruhe nachdenken, Abstand gewinnen. Ich habe viele nette Deutsche kennengelernt, plötzlich gemerkt, dass ich den Weg raus schaffen kann, aus dem Ghetto. Heute bin ich Offizier der israelischen Armee und erzähle den jungen Rekruten gerne, dass ich stolz darauf bin, auch die deutsche Uniform getragen zu haben. Das können die gar nicht glauben.
Was gab den Ausschlag für die Auswanderung?
Als die zweite Intifada anfing, war ich gerade in Los Angeles bei Verwandten. Ich kam mir plötzlich sehr fremd vor. Ich dachte, mein Gott, in Israel geht alles drunter und drüber, meine ganze Familie dort leidet, so wie ich teilweise während meiner Jugend leiden musste. Ich fühlte, da gehöre ich hin.
Sie haben sich mit den Juden in Israel identifiziert, weil Sie als Jude im Wedding gelitten hatten?
Richtig. Aufgrund des Antisemitismus in meiner Jugend sagte ich mir: Das ist mein Volk, da muss ich hin, ich muss meinem Volk Support geben, sie irgendwie unterstützen.
Was haben Sie in Israel gefunden, was Sie im Wedding nie finden konnten?
Sinn im Leben. Ich stehe motiviert auf, fühle mich zugehörig, als Teil der Gesellschaft, der Mehrheit der Gesellschaft. Ich fühle mich frei. Das klingt komisch bei all den Auseinandersetzungen hier, aber ich habe es lieber, dass es einmal alle drei Jahre kracht, als dass ich im Wedding wohne, wo es jeden Tag krachen konnte. Mein Sicherheitsgefühl ist heute viel stärker als früher in Deutschland.
Wie ist es für Sie heute, in den Wedding zurückzukehren?
Mulmig. Ich schaue mich um. Einige meiner Bekannten sind mittlerweile islamistisch sehr tief abgerutscht. Das sind Menschen, die sehr, sehr gefährlich sind. Die würden dich für ihre Überzeugungen am hellichten Tag am Ku'damm über den Haufen schießen. Ich würde nicht immer an alle Orte gehen. Aber ich besuche den Wedding jedes Mal, wenn ich hier bin.
Hat sich die Situation dort insgesamt verbessert in den letzten zehn Jahren?
Es hat sich verlagert. In den 90ern war es viel Jugendkriminalität, Sprühen, Schlagen, dieser ganze Quatsch, der eigentlich keinen weitergebracht hat. Heute geht es für die meisten von kleinauf darum: wie mache ich Geld. Mafia-Strukturen haben sich entwickelt. Die Jugendlichen stiefeln nicht mehr in Black-Panthers-Bomberjacke durch die Straßen, sondern sind jetzt ins Drogen- oder Waffengeschäft involviert.
Deutscher, Jude, Iraner, Weddinger – als was haben Sie sich mit 16 gefühlt, und als was fühlen Sie sich jetzt?
Ach, da müsste man auch das Jahr als 16-Jähriger noch 20 Mal unterteilen. Ich habe mich immer anders gefühlt. Bevor ich in den Wedding zog, dachte ich, ich bin Berliner, dessen Eltern aus Persien stammen. Dann habe ich langsam gemerkt, dass ich auch noch Jude bin. Irgendwann war ich kein Deutscher mehr, sondern Weddinger. Heute bin ich jüdischer Israeli, der aus Deutschland kommt und dessen Eltern aus dem Iran stammen. Die Weddinger Geschichte rückt nach hinten, aber sie ist natürlich Teil meiner Identität. Was ich erlebt habe, ist sehr tief in mir verankert.
»Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude« (248 Seiten, dtv)
Dem Autor Johannes Ehrmann auf Twitter folgen: @johehr
Dieser Artikel erscheint im Wedding Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.
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