Die Kindheit der 68er-Generation: „Wir wollten unsere Kinder befreien“
Der Psychologe Claus Koch hat ein Buch darüber geschrieben, wie sich Erziehung durch die Achtundsechziger verändert hat.
Herr Koch, Sie sind 1950 in Göttingen geboren, was sind für Sie prägende Erinnerungen aus Ihrer Kindheit?
In meiner Familie herrschte, wie in so vielen anderen, ein uns Kinder bedrückendes Schweigen. Es wurde nur über Belangloses geredet. Unsere Elterngeneration war zu einem Großteil als Täter oder Mitläufer in die Ideologie des Nationalsozialismus verstrickt gewesen. Doch diese Vergangenheit wurde ausgeblendet. Aus Scham oder Schuldgefühlen, bei einigen auch, weil sie sich von der nationalsozialistischen Ideologie nicht trennen wollten. In unseren Eltern konnten wir keine Vorbilder sehen, und das ist neben den damaligen vorherrschenden Erziehungsgrundsätzen eine der prägendsten Erinnerungen dieser Zeit.
Was waren das für Erziehungsgrundsätze?
Das Kind sollte gehorchen – bedingungslos! In manchen Familien waren Prügel noch an der Tagesordnung. Ich erinnere mich an einen Vater aus der Nachbarschaft, der mir einmal eine Peitsche mit sechs Riemen zeigte. Das gab es bei uns zu Hause nicht, aber wir haben auch Ohrfeigen bekommen.
Wie setzte sich die Erziehung in den Institutionen fort?
Für die Erzieherinnen im Kindergarten, die ihren Beruf auch in der Nazizeit ausgeübt hatten, war es völlig selbstverständlich, Kinder als Feinde zu betrachten. In dem Sinne, dass Kinder ungezogen sind, dass sie kleckern, nicht das tun, was man von ihnen verlangt, und man sie ständig disziplinieren muss. Wir wurden, wenn wir nicht gehorchten, „auf Vordermann“ gebracht. Und das ist ja ein Ausdruck aus der militärischen Ausbildung.
Welche Methoden wurden angewendet?
Wenn wir etwas Harmloses verbrochen hatten, die Hände nicht gewaschen hatten oder so, dann wurden wir für 30 Minuten in einen Besenschrank auf dem Flur gesperrt, in vollkommener Dunkelheit. Und da schrien wir, bis wir am Ende nur noch wimmerten und nach einer halben Stunde wieder rausgelassen wurden. In der Schule ging es so ähnlich weiter. Neben der Tafel stand ein Stock, mit dem der Lehrer oder die Lehrerin den Kindern bei schlechtem Benehmen auf die Finger schlug. Man durfte die Finger natürlich nicht wegziehen, denn dann wäre man ja ein Feigling gewesen, kein echter Kerl.
Können Sie sich an ein bestimmtes Erlebnis erinnern?
Aufessen war, aus der Erfahrung, Hunger leiden zu müssen, ein Prinzip, was damals absolut vorherrschend war. Da gab es kein Pardon. Sowohl zu Hause als auch im Kindergarten. Wenn man irgendetwas liegen ließ, was einem partout nicht schmeckte, dann musste man so lange vor seinem Brettchen am Tisch sitzen bleiben, bis man das aufgegessen hatte. Ich weiß noch, dass ich einmal über Stunden vor diesem Brettchen saß und danach das Gefühl hatte, ich hätte das Brettchen verschluckt, und es wäre in meinem Bauch. Noch Wochen danach dachte ich, ich müsste daran sterben.
Warum verhielten sich die Autoritätspersonen, allen voran die eigenen Eltern, so?
Die meisten hatten ihre Erziehungsgrundsätze von ihren Eltern aus der Kaiserzeit übernommen. Erziehung hieß um 1900: Unterordnung und unbedingter Gehorsam. Die Kinder hatten sich dem väterlichen Willen komplett zu unterwerfen und die Frauen hatten nicht viel zu sagen. Die angewandten Erziehungsstandards, die auch von Ärzten propagiert wurden, trennten strikt zwischen Jungen und Mädchen. Jungen hatten hart wie Krupp-Stahl zu sein, hatten Schmerzen auszuhalten, sie durften nicht weinen. Männliche Jugendliche sollten später schließlich gute Soldaten werden und bedingungslos ihrem Vaterland dienen. Mädchen wurden auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau hin erzogen. Diese Erziehungshaltung konnten sich ab 1933 die Nationalsozialisten zunutze machen.
Welche Erziehungsideale kamen im Nationalsozialismus dazu?
Die Nationalsozialisten machten die Mütter als Schwachstelle aus, weil sie noch Mitleid mit den Kindern hatten, wenn sie brutal bestraft wurden. Mit der Autorin Johanna Haarer gab es bei den Nazis eine Art Erziehungsikone. Sie hatte ein Programm entworfen, das die natürliche frühkindliche Bindung zwischen Mutter und Kind brechen sollte. Die Mutter sollte das Kind möglichst auf Abstand halten und es schreien lassen. Ihr Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ wurde hunderttausendfach gelesen. Die Erziehung zielte darauf, jede Empathie, jedes Mitgefühl für den anderen abzutöten. Das Kind sollte sich nicht mehr seinen Eltern zugehörig fühlen, sondern der nationalsozialistischen Ideologie.
Welche Folgen für die kindliche Psyche hatten diese autoritären und wenig liebevollen Erziehungsmethoden?
Jedes Kind macht immer wieder Anläufe, um anerkannt zu werden, um geliebt zu werden. Und wenn da nichts zurückkommt, dann zieht ein Kind sich mehr oder weniger in sich zurück. Es kann auch mit aggressivem Verhalten darauf reagieren. Und das war der entscheidende Punkt für uns Mitte der 1960er Jahre, aus dieser Bedrückung, dieser Sprachlosigkeit, dieser Suche nach Kontakt und Kommunikation, den Aufstand mit den Eltern zu suchen. Wir wollten diese Eltern loswerden. Wir wollten mit denen nichts mehr zu tun haben. Sie hatten uns so enttäuscht.
In der Regel erziehen Eltern ihre Kinder so, wie sie selber erzogen wurden. Wie schwer war es für die 68er, dieses Schema zu durchbrechen?
Uns fiel das zunächst einmal sehr leicht. Wir wollten ja weg von den Eltern und ihren Erziehungsgrundsätzen, also haben wir genau das Gegenteil propagiert. Statt gehorsam zu sein, sollten die Kinder tun und lassen, was sie wollten. Für uns hieß es immer: nein, nein, nein. Wir hatten das so im Überdruss erfahren, dass wir uns und unsere Kinder davon befreien wollten.
Was waren die größten Irrtümer dabei?
Unsere eigene Protesthaltung war uns wichtiger als die Frage, ob wir mit dieser strikt antiautoritären Erziehung unseren Kindern wirklich etwas Gutes tun. Dass aber Kinder, gerade die Kleinen, neben positiven Bindungserfahrungen auch ein Stück Führung brauchen, dass man auch wagt, Konflikte mit ihnen einzugehen, das war uns, als wir die antiautoritäre Erziehung propagierten, nicht so bewusst. Und da sind natürlich Fehler gemacht wurden. Kinder von 68ern schreiben ja, dass sie aufgrund dieser Erziehung unter einer gewissen Orientierungslosigkeit litten, weil sie nicht wussten, was man von ihnen erwartet.
Wie halten es denn die Generationen nach 1968? Orientieren die sich bei Erziehungsfragen an ihren Eltern?
Die meisten Kinder, die in den 1980er Jahren und später auf die Welt gekommen sind, sind nach liberalen Erziehungsprinzipien groß geworden. Und Jugendstudien wie die Shell-Studie zeigen, dass heutzutage 70 bis 80 Prozent der jungen Leute sagen, sie würden ihre Kinder genauso erziehen, wie sie selbst erzogen worden sind. Diesen Generationenkonflikt, der uns auf die Straße getrieben hat, den gibt es heute nicht mehr.
Ist also heute alles besser?
Mit guten Erziehungsgrundsätzen aufzuwachsen, geliebt zu werden und anerkannt zu werden, das sind ja Schätze, von denen man später sein ganzes Selbstvertrauen nimmt. Dazu gibt es keine Alternative. Die einzige Währung, die heute in der Mittelschicht ziemlich hart ist, ist Leistung. Nach dem Motto: Du kannst nach Hause kommen, wann du willst, du kannst mitbringen, wen du willst, aber wenn die Leistung in der Schule nicht mehr stimmt, dann wird es für Kinder ungemütlich. Dass Kinder auf diese Weise zu „Projektkindern“ ihrer Eltern werden, resultiert auch aus Abstiegsängsten von Eltern aus der Mittelschicht, die sich sorgen, dass ihre Kinder es später nicht mehr so gut haben werden wie sie.
Auch wenn die meisten jungen Menschen mit ihrer Erziehung zufrieden scheinen, gibt es immer wieder Rufe nach mehr Disziplin und Strenge. Erkennen Sie auch rückwärtige Tendenzen?
Wenn man den Vorstellungen der AfD zuhört, einem Parteivorsitzenden Jörg Meuthen, der von einem rot-grün-versifften 68er-Deutschland spricht, dann merkt man schnell, die wollen zurück zu den Standards der 50er Jahre, zu Zucht und Ordnung. Auch die „konservative Revolution“ von Herrn Dobrindt geht in diese Richtung. Und wenn man das konsequent weiterdenkt, ist man schnell wieder bei der Kindererziehung, auch wenn sie das nicht so offen sagen würden. Ich denke, dass die AfD bei weiterem Erfolg auch anfangen wird, auf Erziehungsprinzipien einzuwirken. Nach dem Motto: Die 68er sind an allem schuld! Wie viel Einfluss sie damit haben werden und ob sie das Rad der Geschichte noch einmal zurückdrehen können, ist eine andere Sache. Die jungen Leute werden sich wohl, wie wir damals, dagegen wehren.
Der Psychologe und langjährige Sachbuchverlagsleiter Claus Koch, der selbst 1968 18 Jahre alt war, hat ein Buch über den Konflikt seiner Generation mit ihren Eltern und Kindern geschrieben.
„1968. Drei Generationen – eine Geschichte“ ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet 22 Euro.
Claus Koch hat sich auch mit der Entwicklungspsychologie des Kindes unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten befasst, war 1968 Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), später Gründungsmitglied der Grünen und dann lange Verlagsleiter für Sachbuch und Ratgeber beim Beltz Verlag. Am Mittwoch, 13. Juni um 19 Uhr stellt der Autor Claus Koch sein Buch vor, im Gespräch mit Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik in der Galerie Schmalfuß, Knesebeckstraße 96, Charlottenburg. Anmeldung per Mail an ms@schwindkommunikation.de oder unter Tel. 31 99 83 20.
Das Interview führte Saara von Alten.