Gesang: Wir sind ganz Chor
In Berlin treffen sich 60 000 Menschen regelmäßig zum Singen. Der Bach-Chor der Gedächtniskirche hat sich auf Kantaten seines Namensgebers spezialisiert.
„Üoaeioüoaei!“ Aus der Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche dringen merkwürdige Laute. Wer einen Blick durch die Glastür riskiert, sieht allerdings keine exotischen Vögel beim Balztanz, sondern ein Dutzend Damen, die sich um einen Flügel geschart haben. An den Tasten sitzt Reiner Schnös und ruft in die Vokalgirlanden: „Immer von oben ansetzen, schön glockig, den Ton inhalieren, nicht rausdrücken.“ Während er mit der rechten Hand Akkorde anschlägt, malt er mit der linken Kreise in die Luft. „Die Backenzähne auch beim ,i’ leicht auseinander bitte, die Zunge immer an den unteren Schneidezähnen! Und jetzt: Juijuijuiju!“
Jeden Montag probt der Bach-Chor in der Kirche, alle zwei Wochen führen die 60 Laiensängerinnen und -sänger beim samstagabendlichen Gottesdienst eine Kantate ihres Namenspatrons auf. Seit 1961 waren das rund 860 Auftritte. Da muss man wirklich Lust haben auf die Werke des Thomaskantors – und darauf, allwöchentlich skurrile Trainingseinheiten zu absolvieren. Bevor es nämlich mit Johann Sebastian Bach losgeht, gibt es erst Aufwärmübungen für die Stimmbänder, vom bewussten Ein- und Ausatmen bis zum Konsonantenknallen. „Die brauche ich auch unbedingt, wenn ich abgehetzt vom Job komme“, erzählt Lars Brooksiek. „Nur so kann ich vom Arbeitsalltag umschalten auf die konzentrierte Atmosphäre der Proben.“ Schon in jungen Jahren war er Mitglied in einem Jugendchor und hatte dabei so viel Spaß, dass er auch nach dem Berufseinstieg bei einem Finanzdienstleister das kollektive Singen nicht missen wollte. Peter Glage ist sogar schon seit 1975 dabei: „Jetzt als Rentner habe ich natürlich keine Probleme mehr, den Bach-Chor zeitlich unterzubringen. Aber wenn es an die Urlaubsplanung geht, ist unser Proben- und Aufführungsplan immer noch die Richtschnur.“
Singen ist die günstigste Möglichkeit, Kultur zu genießen – schließlich wird alles, was nötig ist, schon von der Natur mitgeliefert. Jeder, der sprechen kann, kann auch singen. Gehen die Ambitionen allerdings übers Badewannenträllern hinaus, wird es mitunter recht mühsam. Richtig atmen, den Takt halten, deutlich die Vokale formen, sauber intonieren, aufeinander hören – damit ein Chor gut klingt, müssen viele Faktoren zusammenkommen. Gerade bei einer so komplexen Musik wie der des Barockkomponisten Bach.
„Die Hauptaufgabe für mich ist, die Leute herauszufordern“, erklärt Chorleiter Achim Zimmermann, „aber eben nur so weit, dass nie das Gefühl aufkommt: Das packen wir nicht.“ Seit drei Jahrzehnten trainiert der ehemalige Dresdner Kreuzchorknabe und studierte Dirigent nun schon Sängerkollektive, neben dem spezialisierten Bach-Chor hat er die Berliner Singakademie zu einem der Protagonisten der hiesigen Chorsinfonik gemacht.
60 000 Berliner singen derzeit in den 2000 Chören. Die Spannbreite reicht vom traditionellen Männergesangsverein über semiprofessionelle Ensembles bis hin zu Truppen, die sich nur einer einzigen Stilrichtung verschrieben haben wie Gospel, Schlager oder a cappella. Bundesweit gehören 27 000 Chöre mit 750 000 Mitgliedern zum Deutschen Chorverband. Die Dunkelziffer allerdings liegt viel höher: Rechnet man alle Kirchenchöre mit, überspringt die Zahl der vokalkollektiv aktiven Deutschen sicher die Zwei-Millionen- Marke. Eine Volksbewegung. Und ein Wirtschaftsfaktor: Denn wer selber gerne Musik macht, kauft sich auch eher Tickets für Konzerte und Opernaufführungen als der normale Musikmuffel.
Weil das Klassikpublikum chronisch überaltert ist, wird die Jugendförderung immer wichtiger: Zum 1. Juli soll landesweit mit dem Gütesiegel „Felix“ ein messbarer Standard für kindgerechtes Singen eingeführt werden, aus Frankfurt am Main will man möglichst bald das Lehrer- Fortbildungsprogramm „Primacanta – Jedem Kind seine Stimme“ an die Berliner Grundschulen holen.
Zu den Highlights im Leben eines jeden Laiensängers gehören Gastspiele in anderen Städten – und natürlich die Chorfreizeiten. Wobei der Name in die Irre führt: Denn natürlich wird noch intensiver geprobt als sonst schon, wenn so eine Notengemeinschaft auf Reisen geht.
Bevor Achim Zimmermann an diesem Montag in die Proben zu Bachs „Johannespassion“ einsteigt, gilt es noch, den runden Geburtstag eines Mitglieds zu würdigen – natürlich nicht mit einem profanen „Happy Birthday“, sondern mit einem anspruchsvollen Kanon über einen Bibel-Psalm: „Dass Erde und Himmel dir blühen, dass Freude sei größer als Mühen!“. Singen ist eben vor allem auch eine Sache der Geselligkeit.
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