Karneval der Kulturen in Berlin: "Wir nennen ihn den Bülbül-Sound"
Hunderttausende werden an diesem Sonntag zum Karneval der Kulturen erwartet, der ab Mittag durch Kreuzberg zieht. Wer sind eigentlich die Teilnehmer? Sechs kleine Porträts.
Bevor am heutigen Pfingstsonntag der große Umzug durch Kreuzberg zieht, waren am Sonnabend erst mal die Kleinen dran: Der Kinderkarneval stand zum 20. Jubiläum unter dem Motto „20 Jahre mit Gebrüll“ – kreative Löwen gab es folglich überall von Mariannenplatz bis Görlitzer Park, wo am Nachmittag das Kinderfest gefeiert wurde. Der Umzug der großen Karnevalisten startet um 12.30 Uhr am Hermannplatz (wir berichten in unserem Live-Blog von der Veranstaltung, der Service zu den Straßensperrungen findet sich hier). Zum Karneval haben wir haben sechs Menschen getroffen, die ihn besonders machen
Ein Kolumbianer unter Koreanern
Jesus Fernandez de Castro – der Name klingt so gar nicht asiatisch. Trotzdem tanzt der gebürtige Kolumbianer am Sonntag beim Karneval der Kulturen das erste Mal auf dem Südkorea-Wagen zu koreanischer Popmusik, kurz KPop. Der 26-Jährige wohnt seit dreieinhalb Jahren in Berlin, zu Kpop tanzt er schon seit 2007 – bisher allerdings nur privat: „Angefangen zu tanzen habe ich mit zehn Jahren, das erste Video war ‚Love don’t cost a thing' von Jennifer Lopez“, sagt de Castro. Schnell kam er dann zu japanischer Kultur, von da an war es nur ein kleiner Tanzschritt zum koreanischen Choreo-Pop.
Nun führt er ganze fünf koreanische Choreographien auf, die er sich allesamt mithilfe von YouTube-Videos angeeignet hat. Was Kpop für den gelernten Schauspieler ausmacht, ist das Drumherum, die Show: „Die Lieder sind komplett durchchoreographiert“, sagt de Castro. In seiner Heimat Kolumbien war er 2004 zum letzten Mal, Südkorea hat er bisher noch nicht live gesehen: „Meine Mitbewohner und ich planen allerdings, diesen September hinzufliegen“, sagt de Castro, der in einer Dreier-WG in Prenzlauer Berg wohnt. Bald bekommt er einen neuen Mitbewohner: „Der ist ausgerechnet Südkoreaner und selbst der hört nicht so viel KPop wie ich.“
Portemonnaies aus Polyethylen
Ein Schwabe in Berlin: An sich nichts Neues. Das Produkt, mit dem Nils Wagner beim Karneval der Kulturen teilnimmt, ist allerdings ziemlich neu: Mit seinem 2012 gegründeten Startup Paprcuts stellt der 34-Jährige Portemonnaies, Kulturbeutel und Taschen aus einem papierähnlichen Material her. Diese bietet er erstmalig am Karnevalswochenende an einem Stand an der Blücherstraße an. Das Material, das Wagner verwendet, heißt Tyvek und ist im Gegensatz zu Papier reiß- und wasserfest. In Stuttgart geboren, hat Wagner 2007 in Berlin an der Designakademie seinen Abschluss als Kommunikationswirt gemacht.
Jahrelang arbeitete er zunächst in einer Agentur, bevor ihm die Idee zum eigenen Startup kam: „Irgendwann habe ich gesagt: Es reicht, ich möchte nicht mit Herzinfarkt und Burn-out aus der Agentur gehen.“ So wurde er sein eigener Chef, mittlerweile beschäftigt er fünf Mitarbeiter in seinem Büro am Moritzplatz. Auf das Material aus Polyethylen kam er über verschiedene Druckereien in Berlin. Nun lässt Wagner die Produkte an verschiedenen Orten herstellen, in der JVA Reinickendorf beispielsweise werden seine Produkte konfektioniert. Wagner lebt in Kreuzberg, der Weg zum Straßenfest und seinem Stand in der Blücherstraße ist somit nicht weit, Sorgen macht er sich nur um das Wetter. Auch wenn seine Portemonnaies natürlich wasserfest sind.
Japanisches Schrein-Tragen
Vor genau zwei Jahren ist Alexandra Verdier nach Berlin gezogen. Damals kam sie mit einem Schock in die Stadt: Die in Tokio aufgewachsene Halb-Japanerin kam gerade aus Brüssel, hatte dort einen Banküberfall miterlebt. So saß Verdier in ihrer Wohnung in der Kreuzberger Schönleinstraße und hörte Geräusche von der Straße kommen. Aus ihrem Fenster konnte sie die Vorbereitungen für den Karnevalsumzug in der Urbanstraße sehen. „Ich habe mich sofort willkommen gefühlt, als ich gesehen habe, wie offen Berlin mit allen Kulturen umgeht“, sagt die 27-Jährige. Ihre eigene japanische Kultur sah sie jedoch unterrepräsentiert: „Es gab nur Anime und das obwohl rund 4000 Japaner in Berlin leben“, sagt Verdier, die heute in Schöneberg wohnt.
Diesen Missstand wollte die studierte Historikerin ändern: Am heutigen Sonntag geht Verdier beim Karnevalsumzug am Wagen 26 mit ihrem Mikoshi-Projekt an den Start. Mikoshi ist das japanische Wort für Schrein und der hat eine lange Tradition in Japan. Bis zu vierzig Menschen müssen den 280 Kilogramm schweren Schrein tragen: „Es ist kein religiöses, sondern ein gemeinschaftliches Erlebnis“, sagt Verdier. An dem kann übrigens jeder teilnehmen: Wer möchte, kann um 10.30 Uhr zur Ecke Schönleinstraße/Urbanstraße kommen und Mitträger inklusive T-Shirt werden. „Dann werden wir sehen, wie schnell wir alle Freunde werden können“, sagt Verdier.
Mit dem Saxofon nach Berlin
„Als ich nach Erlangen kam, war ich so froh, eine Band zum Spielen gefunden zu haben“, sagt Julia Verdenhalven mit ruhiger Stimme. Die gebürtige Berlinerin studiert seit 2014 in Erlangen Medizin. Dies war auch das Jahr, in dem sie Saxofonistin der Balkan-Oriental-Band Bülbül Manush wurde. „Unseren Stil kann man nicht festlegen“, sagt Verdenhalven. „Wir nennen ihn einfach den Bülbül-Sound.“ Die Band startete 2010 mit vier Mitgliedern, mittlerweile sind es zwölf, die zur festen Besetzung dazugehören: „Manchmal sind es sogar zwanzig, die auf der Bühne stehen, je nach Song“, sagt Verdenhalven. Am heutigen Sonntag um 20.30 Uhr spielt allerdings nur das Kernteam für eine Stunde auf der Bazáar-Bühne am Halleschen Tor.
Für die meisten Mitglieder der Band ist es bereits der dritte Karnevals-Auftritt, für Verdenhalven ist es Premiere. Den Karneval besuche sie zwar regelmäßig, mit ihrer Band sei sie in ihrer Heimatstadt noch nicht aufgetreten. In Reinickendorf aufgewachsen, fing die Musikerin bereits in der vierten Klasse mit dem Saxofon-Spielen an. „Ich habe drei Schwestern, jede von uns spielt ein Instrument. Ich fand das Saxofon schön, weil es so geglänzt hat und toll klang“, sagt die 25-Jährige und kichert. Auch wenn sie momentan in Erlangen wohnt: Berlin ist für sie weiterhin ein wichtiger Ort, der Karneval sei immer wieder ein guter Anlass in die Stadt zu kommen: „Das ist ja das Ereignis in Berlin, auch weil so viele Bands spielen.“
Rap und Langos
„Ich gehe schon seit 17 Jahren auf den Karneval. Dieses Jahr erstmalig mit meinem eigenen Label.“ Paul Binder ist aufgeregt, er und vier weitere seiner Kollegen vom Berliner Rap-Label goenndirdas haben am gestrigen Samstag eine Dreiviertelstunde lang auf der Bühne in der Zossener Straße ein Live-Set ihrer Songs gespielt. Als Rapper „Tighty“ ist Binder schon seit Jahren aktiv, hat zwei Jahre in Folge das Berliner Rap-Battle „Rap am Mittwoch“ gewonnen. Der Auftritt war für ihn trotzdem eine Premiere.
Gelernt hat Binder Finanzbuchhaltung, sieben Jahre lang rechnete er Veranstaltungen am Maxim-Gorki-Theater ab, machte Tagegeld-Auszahlungen. Nun kümmert er sich um seine eigenen Finanzen. Die Labelgründung 2015 machte ihn zum Kleinunternehmer: „Noch besser wäre natürlich Großunternehmer“, sagt Binder und lacht. Auf den Karneval geht der gebürtige Berliner jedes Jahr: „Am liebsten sehe ich mir den Umzug an, tanze an den afrikanischen Ständen und esse diese ungarische Spezialität, Langos. Die gibt es nur zu Karneval.“
Kölsch auf Türkisch
Ein studierter Opernsänger aus Izmir singt auf Kölsch in Berlin. Ögünc Kardelen ist Sänger und Gitarrist des Trios Kent Coda, die schon für die österreichische Band Wanda als Vorgruppe aufgetreten sind. Die Musikgruppe setzt sich zusammen aus Kardelen, dem Österreicher Christoph Guschlbauer am Bass und Sercan Özökten an der Darbuka-Trommel. Zusammen spielen sie einen Mix aus türkischen Indie-Folk. Kardelen wohnt in Köln und ist Karnevals-Fan: von dem in Köln. Vom Berliner Karneval habe er bis vor einigen Wochen noch nie etwas gehört: „Alle meine Freunde haben gesagt, das sei voll das geile Festival, ich kannte das gar nicht.“
Passenderweise hat Kardelen, der seine Songs am liebsten über Politik und die Sehnsucht zum Meer schreibt, neuerdings auch einen kölsch-türkischen Karnevalssong im Repertoire: „Der Song heißt ,Ein letzte Süppche auf der Weidenjasse‘ und handelt davon, gemeinsam Spaß zu haben“, sagt der 37-Jährige. Den Song hat er auch gestern bei seinem Auftritt auf der Bazáar-Bühne am Halleschen Tor gespielt. Den großen Umzug am heutigen Sonntag wird er nur kurz sehen können, ab 14 Uhr sitzt Kardelen bereits wieder im Flugzeug nach Izmir, ans Meer. Vielleicht, um neue Songs zu schreiben.