Der Fall Sürücü: „Wir konnten ihr Leben nicht tolerieren“
Hatun Sürücü wurde von ihrem jüngsten Bruder hingerichtet. Sechs Jahre nach dem Ehrenmord spricht die Familie – Mitgefühl hat sie nicht.
Dreimal hat er seiner Schwester Hatun in den Kopf geschossen. Sechs Jahre danach sagt Ayhan Sürücü: „Es war falsch, meine Schwester zu töten.“ Doch in seiner Stimme klingt kein Mitleid mit, keine Reue. Die Worte klingen kalt und einstudiert. Wenn der heute 25-Jährige im Gefängnis über seine Schwester redet, spricht er nie den Namen der jungen Mutter aus. Rund ein Dutzend Mal haben die beiden Buchautoren und ARD-Reporter Matthias Deiß und Jo Goll den verurteilten Mörder in den vergangenen zwei Jahren in der Charlottenburger Justizvollzugsanstalt besucht. So etwas wie Mitgefühl konnten sie bei Ayhan Sürücü nicht ausmachen. „Diesen Schritt hat er bis heute nicht gemacht“, sagt Jo Goll.
Ayhan Sürücü ist ein Mörder mit guten Manieren. Er sitzt ordentlich und gepflegt in seiner Zelle. Seit sechs Jahren unterzieht er sich freiwillig einer Psychotherapie. Ayhan Sürücü habe zwar eingesehen, dass er kein Recht hatte, seiner Schwester das eigene Recht auf ein selbstbestimmtes Leben auszulöschen, sagen die Autoren. „Aber er glaubt immer noch, dass seine Schwester falsch gehandelt hat, weil sie wie eine Deutsche lebte“, sagen die Autoren. Mit seiner Tat hatte Ayhan Sürücü in Deutschland eine intensive Debatte über Integration ausgelöst, über sogenannte Ehrenmorde und Zwangsehen. Zumal nie der Verdacht ausgeräumt werden konnte, dass es sich bei der Bluttat um ein Familienkomplott handelte, einen gemeinschaftlich beschlossenen Mord.
Die Journalisten Jo Goll und Matthias Deiß sind in dem Fall auf Spurensuche gegangen. Die Ergebnisse ihrer Recherchen haben sie in einem Film und in dem Buch „Ehrenmord – Ein deutsches Schicksal“ zusammengefasst. Zu Wort kommen Freunde von Hatun Sürücü, ehemalige Arbeitskollegen sowie Angehörige der Familie Sürücü. Unter konspirativen Bedingungen konnten die Autoren sogar die damalige Kronzeugin Melek und ihre Mutter treffen. In Ostanatolien und Istanbul sprachen sie mit Mutlu und Alpaslan Sürücü, den beiden anderen des Mordes verdächtigen Brüdern. Ihre Freisprüche aus Mangel an Beweisen hatte der Bundesgerichtshof 2007 aufgehoben.
Der heute 32-jährige Mutlu lebt seit fünf Jahren als streng gläubiger Moslem mit Frau, zwei Kindern und einer Schwester in einem Istanbuler Vorort. Nach dem BGH-Urteil gab Mutlu seine deutsche Staatsangehörigkeit zurück. Damit ist er als türkischer Staatsbürger vor einer Ausweisung geschützt. Er selbst sagt: „Wenn Deutschland Druck machen würde, würde die Türkei mich sicherlich abschieben. Ich denke, Deutschland macht aber nicht genug Druck.“
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Schon früh hatte Mutlu Sürücü mit seiner Schwester gebrochen. „Wenn ich weiterhin mitbekommen hätte, wie sie lebt, wäre ich auf jeden Fall gewalttätig geworden. Auch wenn ich sie nicht umgebracht hätte“, wird er im Buch zitiert. Er erwartete von seiner Schwester Respekt, Unterwerfung. Einmal schlug er ihr in der Öffentlichkeit ins Gesicht. „Hass war schon da. Auf jeden Fall. Ja.“ Er kritisiert nicht seinen Bruder Ayhan, er wirft vielmehr der Kronzeugin Melek, der damaligen Freundin seines Bruders vor, sie habe „etwas Falsches gemacht“. Das Gericht sei auf die „wahre Mittäterin“ hereingefallen. Mutlu sagt über Hatun: „Wir konnten ihr Leben nicht tolerieren. Wie kann man da über einen Familienbeschluss reden? Auch mein Vater hat keinen Auftrag gegeben, Hatun zu ermorden. Jedenfalls nicht mir.“ Allein sein jüngster Bruder sei für die Tat verantwortlich. Mit seinem Bruder Alpaslan, der ebenfalls in Istanbul lebt, hat er kaum Kontakt. Dieser bestreitet ebenfalls eine Beteiligung der Familie. „Es lässt sich abschließend nicht beurteilen, ob es einen Familienbeschluss zum Mord gab“, sagen Goll und Deiß. Die sunnitisch, strenggläubige Familie Sürücü aus dem kurdischen Ostanatolien lebte über Jahrzehnte in Kreuzberg, aber nicht in Deutschland mit westlichen Werten. „Es wurde allen ein radikaler Ehrbegriff vorgelebt“, sagt Goll. „Wer Mutlu reden hört, weiß, was galt: die Ehre der Familie.“ Hatun habe verzweifelt versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Drei Wochen vor ihrem Tod war die alleinerziehende Mutter drauf und dran, in Freiburg ganz neu anzufangen.
Eines machen Film und Buch ganz deutlich: Die Bluttat hat zwei Familien zerstört, die Familie Sürücü und die Familie der Kronzeugin Melek. Sie ist heute 25 Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter an einem unbekannten Ort. Melek rückt von ihren Aussagen damals nicht ab: Mutlu habe die Waffe besorgt und Alpaslan habe in der Nähe des Tatorts Schmiere gestanden. Auch Meleks Mutter, die am Tag nach dem Mord bei den Sürücüs zu Besuch war, ist fest davon überzeugt, dass die Familie von dem Mordplan wusste.
Mutter und Tochter haben für ihren Schutz im Zeugenprogramm ihr normales Leben aufgeben müssen. „Wir haben uns total allein gelassen gefühlt“, sagt Melek. Ihre Mutter musste ihre Wäscherei aufgeben, sie lebten beide von Hartz IV. Finanzielle Hilfe vom Staat gab es nicht, um sich eine teure Schutzwohnung zu leisten. „Wir haben Flaschen gesammelt, damit wir uns Brot kaufen können“, sagt Melek. Die Mutter musste ihre beiden Söhne beim Vater zurücklassen.
Ayhan Sürücü wird nach seiner Gefängnisstrafe mit einer Ausweisungsverfügung umgehend Deutschland verlassen und vermutlich auch bei seinem Bruder Mutlu unterkommen. Melek und ihre Mutter aber leben weiter in Gefahr. Melek sagt: „Ich empfinde nur Hass für die Sürücüs. Mein Leben ist durch sie zerstört. Wegen ihnen ist mein Leben weg.“
Das Buch „Ehrenmord – Ein deutsches Schicksal“ von Matthias Deiß und Jo Goll im Hoffmann und Campe Verlag erscheint am 28. Juli im Buchhandel. Der vom RBB und WDR produzierte Film „Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü“ von Deiß und Goll läuft am Mittwoch, 27. Juli, um 23 Uhr in der ARD.
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