Raed Saleh im Interview: "Wir brauchen eine Verfassungsänderung"
SPD-Fraktionschef Raed Saleh will die Bürger künftig öfter befragen – ob zu Olympia, zur A 100 oder zur Energiewende. Das Parlament soll mit Zweidrittelmehrheit beschließen können, ein Votum der Bürger einzuholen. Nun ist die Opposition gefragt.
Herr Saleh, vor dem Volksentscheid zu Tempelhof haben Sie in einer erregten Parlamentsdebatte den Initiatoren des Volksbegehrens provinzielle Spießigkeit attestiert. Tut Ihnen das heute leid?
Wenn man in einem politischen Wettstreit ist, muss deutlich werden, welche Haltung man hat. Ich bedaure, dass es nicht möglich ist, an den Rändern des Tempelhofer Feldes Wohnungen zu bauen. Aber die Abstimmung ist eindeutig ausgegangen, wir respektieren das, Glückwunsch an die Initiatoren des Volksentscheids.
Nach der Tempelhofabstimmung haben Sie angekündigt, die Bürger an politischen Prozessen mehr zu beteiligen. Was bedeutet das?
Die Stadt hat sich glücklicherweise politisiert. Mehr Menschen wollen bei relevanten Fragen mitreden und mitentscheiden. Das ist eine gute Entwicklung. Weil wir aber auch wollen, dass sich die Stadt weiterentwickeln kann, müssen wir mehr Akzeptanz schaffen für bestimmte Vorhaben. Eine bessere Beteiligung der Bürger kann einen Konsens schaffen darüber, welche Vorhaben richtig und wichtig sind. Wir haben gelernt, dass man den Dialog mit der Stadtgesellschaft früher suchen sollte.
Wie stellen Sie sich das vor?
Wir müssen bei wichtigen Vorhaben als Politiker den Mut haben, Entscheidungen nicht allein zu treffen. Wir wollen die Bürger mitnehmen, durch eine breit angelegte Diskussion, aber auch in Form von konsultativen Volksbefragungen und auch verbindlichen Referenden. Dazu brauchen wir eine Verfassungsänderung. In der kommenden Woche werde ich darüber mit den Vorsitzenden der anderen Fraktionen sprechen. Wir müssen klären: Wer fragt? Wie sieht die Frage aus? Ich kann mir vorstellen, dass jeweils eine Zweidrittelmehrheit im Parlament darüber entscheidet, ob es eine Befragung gibt. Dann wird das auch nicht inflationär. Eine Zweidrittelmehrheit sorgt für mehr Vertrauen und Verbindlichkeit.
Wie könnte das am Beispiel Olympia konkret aussehen?
Wir müssen vor der offiziellen Bewerbung wissen, was die Leute wollen. Bisher geht es ja nur um eine Interessenbekundung, die halte ich für richtig, um sich die Chancen offen zu halten. Aber ich sehe noch viele ungeklärte Fragen, da teile ich die Bedenken vieler Bürger. Eine Olympiabewerbung Berlins geht nur nach einem breiten Beteiligungsprozess. Am Ende muss ein Votum der Bevölkerung stehen, bevor es Spiele geben kann.
Sportsenator Frank Henkel hat „Spiele der neuen Bescheidenheit“ angekündigt. Können Sie sich darunter etwas vorstellen?
Bisher kenne ich keine Zahlen, was Olympia Berlin kosten würde. Vor einer Entscheidung und für die Diskussion werden wir diese belastbaren Zahlen brauchen.
Bei Olympiabewerbungen ist es fast immer so, dass die Leute erst dagegen sind – und hinterher begeistert. Wie verhindern Sie, dass die Politik keine Dinge mehr durchsetzen kann, von denen sie überzeugt ist?
Ohne die vorherige Einbindung der Bürger geht eine Entscheidung wie Olympia heute nicht mehr. Sonst bekommen Sie womöglich einen von den Bürgern organisierten Volksentscheid mitten im Planungsprozess, wenn schon viel Energie und Geld investiert sind. Das wäre verheerend. Die Politik muss selbst aktiv werden und den Bürgern die Frage stellen: Wollt ihr das? Ich glaube, dass wir gerade so eine höhere Akzeptanz erreichen und solche großen Projekte auch hinbekommen.
Über welche Projekte sollen die Leute denn noch abstimmen?
Ich kann mir vorstellen, dass wir die Bürger zur Verlängerung der A 100 befragen. Will eine Mehrheit in Berlin einen Weiterbau der Stadtautobahn oder nicht? Das würde die Stadt bewegen.
Wollen Sie es denn?
Ja, ich bin dafür.
Welche weiteren Themen wollen Sie zur Wahl stellen?
Ich kann mir das auf einer größeren Ebene auch für Fragen der Energiewende vorstellen. Akzeptieren die Bürger in ihrer Mehrheit, nicht nur in einer Gemeinde, die dafür notwendigen Trassen? Meine Antwort ist: Lasst uns die Leute proaktiv mitnehmen, und zwar über die einzelne Gemeinde hinaus.
Wie oft wollen Sie die Leute befragen?
Es darf da keinen Automatismus geben. Immer dann, wenn es Fragen von erheblicher Relevanz gibt. Olympia, A 100, Stromtrassen – ich kann mir nicht vorstellen, das zu machen, ohne die Bürger einzubinden. Wie die Beteiligungsprozesse genau aussehen, möchte ich mit den anderen Fraktionen besprechen. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir eine öffentlich tagende Enquetekommission einrichten, die sich mit solchen Fragen beschäftigt.
Welche Rolle sollen gesellschaftliche Organisationen in diesem Prozess spielen?
Als eine Art Scharnier zwischen Bürgern und Politik. Viele Stiftungen machen da eine gute Arbeit, auch der BUND, Mehr Demokratie, Citizens for Europe, die IHK, die Gewerkschaften und viele andere mehr können einen ehrlichen, offenen Prozess vorantreiben.
Die Frage der Privatisierung öffentlichen Eigentums bewegt viele Menschen. Wie wollen Sie damit umgehen?
Wir könnten so wie Bremen in der Landesverfassung eine Privatisierungsbremse festschreiben. Das fordern wir als SPD schon seit Januar 2013. Der Verkauf von bestimmtem Landeseigentum ginge dann nur noch, wenn die Bürger befragt werden und eine Mehrheit dafür ist. Wir haben da in der Vergangenheit nicht immer alles richtig gemacht, die Wohnungsverkäufe etwa waren ein Fehler. Aber es war auch eine andere, harte Zeit. Wir müssen heute wieder mehr investieren, dem Öffentlichen Dienst und den Beamten eine Perspektive geben. Auch unsere Investitionsquote muss besser werden, damit wir den Bestand an Infrastruktur und öffentlichen Gebäuden erhalten können. Wir dürfen nicht weiter von der Substanz leben.
Das Interview führte Lorenz Maroldt.
Raed Saleh, 37,
vertritt seit 2006 Spandau im
Abgeordnetenhaus.
Seit Dezember 2011 ist er Vorsitzender
der SPD-Fraktion.
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