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SPD-Fraktionschef Raed Saleh stellte gerade sein neues Buch vor.
© Tsp/Doris Spiekermann-Klaas

Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh: „Wir befinden uns nicht in einer bunten Multi-Kulti-Welt“

Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh fordert klare Regeln für das Zusammenleben in der Zuwanderungsgesellschaft – und härtere Sanktionsmöglichkeiten.

Herr Saleh, Sie haben ein Buch ("Ich deutsch") über Integration und neue Leitkultur in Deutschland geschrieben. Wollen Sie Thilo Sarrazin beerben?

Die Thesen von Sarrazin waren für mich schwer auszuhalten. Ich will kein dunkles Bild von unserem Land malen und Ängste schüren, dass wir uns angeblich abschaffen. Nein, ich möchte Deutschland zukunftsfest machen, ein neues Wir definieren. Das geht nur, wenn wir uns aus allen Welten und allen Sichtweisen das Beste herauspicken. Wir in Deutschland sind multireligiös, der Staat ist säkular und wir handeln ethisch.

Der amerikanische Melting Pot?

Die Amerikaner haben etwas geschaffen, das wir nicht haben: eine Vision, hinter der sie sich versammeln: the American Dream. Das Prinzip – allerdings eher als Salad bowl – funktioniert wie in einem Salat: Da sind unterschiedliche Arten von Obst und Gemüse in der Schüssel, Tomate bleibt Tomate, Gurke bleibt Gurke, und jeder hält sich gegenseitig aus.

Und die Salatsauce ist die amerikanische Verfassung?

So ist das. Das Blöde ist nur, dass Trump das Gemeinsame abzuschaffen versucht, er führt sein Land in die Isolation. Aber Staaten, die sich einigeln, schrumpfen – so wie Großbritannien, da rennen die jungen Leute nach dem Brexit davon. In Ländern, die nicht offen sind, bilden sich auch schneller Parallelgesellschaften. Staaten dagegen, die andere willkommen heißen, wachsen.

In Deutschland und in Berlin gibt es auch Parallelgesellschaften.

Das stimmt. Wir haben in Deutschland bei der Integration vielerorts versagt. Natürlich sind auch in Berlin hunderttausende Menschen angekommen in unserer Gesellschaft, aber zu vieles läuft aneinander vorbei. Deshalb brauchen wir alle, neue und alte Bürger, einen gemeinsamen Nenner. Eine linke Leitkultur. In der darf etwa jeder seine Religion haben – oder gar keine Religion – wenn er nur tolerant und anständig ist. Die Kunst ist, sich gegenseitig auszuhalten.

Und davon überzeugen Sie jetzt alle arabischstämmigen Kinder von Neukölln?

Natürlich, da hilft nur Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Und Akzeptanz. Aber davon will ich auch alle türkischstämmigen, bosnischstämmigen, iranischstämmigen – und deutschen Jugendlichen überzeugen. Wir müssen anerkennen, dass der Islam dazugehört – und die Moslems hier müssen begreifen, dass Deutschland nicht irgendein Land ist sondern ihr Land. Nicht Erdogan ist ihr Präsident, sondern Frank-Walter Steinmeier. Deshalb muss es aufhören, dass Import-Imame unsere Kinder unterrichten. Diese angeblichen Lehrer sind hier gar nicht sozialisiert und haben wenig Ahnung von Deutschland. Wir brauchen einen deutschen Islam. Und den Konsens: Nie wieder Holocaust, nie wieder Judenhass.

Nach Meinung des Berliner Psychologen und Islamismus-Experten Ahmad Mansour hat die übergroße Mehrheit der muslimischen Jugendlichen in Berlin antisemitische Gedanken.

Ich kann mit so einer Schätzung nichts anfangen. Natürlich sind in unserer Stadt zu viele junge Menschen unterwegs, die antisemitisch denken. Aber das ist nicht nur ein Problem der Zuwanderer, sondern kommt auch in vielen bürgerlichen Milieus vor. Eine Enquete-Kommission des Bundestages hat gezeigt, dass zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung antisemitische Vorurteile haben – und das betrifft zugezogene Familien genau wie alteingesessene. Der Nährboden ist oft auch sozial. Ich bin in Spandau aufgewachsen, mein Quartier war Heerstraße Nord – unzählige Hochhäuser auf kleinem Raum. Da haben drei Viertel keine Perspektive aufzusteigen. Die sind nicht nur jüdischen Mitbürgern gegenüber feindlich gesonnen, sondern auch oft Frauen gegenüber oder der politischen Elite. Sie fühlen sich abgehängt, verloren. Diese Leute brauchen maximale Chancen, aber auch Ansagen, was geht und was nicht. Sie brauchen einen Fahrplan, Spielregeln für die Gesellschaft wie beim Fußball. Und bei Einhaltung der Regeln laden wir sie ein mitzumachen. Damit sie stolz auf sich sind und auf ihr Land.

Und wenn sie trotzdem nicht mitmachen wollen bei Ihrer Leitkultur – was dann?

Dann gibt es Ermahnungen und bei Straftaten schnelle, harte Strafen. Kinder werden nicht mit Gewalt erzogen, Frauen haben gleiche Rechte, das Sozialsystem ist nicht zum Missbrauch da, sondern für die Ärmsten: Das muss der Konsens sein. Wer diesen akzeptiert, ist Teil des neuen Deutschlands. Die anderen sind Extreme, die müssen isoliert werden. Wir haben es doch in Hamburg gesehen: Diese Schwerstverbrecher, die vermummt durch die Stadt marodieren, verlassen unseren Wertekanon.

Und wer bestimmt, wer isoliert wird?

Wir alle gemeinsam, die Mehrheit der Gesellschaft. Ich glaube, 90 Prozent der Gesellschaft sehnen sich nach Ruhe, Stabilität, Verlässlichkeit, Sicherheit, auch sozialer. Zu oft werden diese 90 Prozent, die ganz normalen hart arbeitenden Menschen, untereinander ausgespielt. Zurzeit säen die Extremisten Zwietracht in die Mehrheitsgesellschaft, sie schüren Ängste vor Terror, Überfremdung, Unübersichtlichkeit. Dabei ist Vielfalt ein Grund, stolz zu sein.

Schön und gut. Aber die Realität ist doch oft härter. Es gibt in Berlin nicht wenige Schulen, an denen die große Mehrheit der Schüler nichtdeutscher Herkunft ist, viele nicht richtig deutsch sprechen. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka hat vorgeschlagen, die Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund pro Klasse auf 35 Prozent zu begrenzen. Eine gute Idee?

Das ist realitätsfremd. Man kann doch nicht anfangen, Kinder von A nach B mit Bussen zu bringen. Mein Ansatz ist genau das Gegenteil: Die besten Lehrer müssen an die schwierigsten Schulen, damit alle die gleichen Chancen haben. Armut und Perspektivlosigkeit sind das Problem, nicht der Migrationshintergrund. Und man muss die Eltern dieser Kinder einladen, mitzumachen beim Lernen. Es braucht Elterncafés – auch mehr Werbung in den Medien.

Im türkischen Fernsehen?

Was ist denn die Alternative: Sollen wir die Hände in den Schoß legen? Ich muss doch um die Menschen werben – auch die Pegida-Leute müssen wir einladen, bei unserer Leitkultur mitzumachen. Es soll Spaß machen, Deutscher zu sein, in einem vielfältigen Land zu leben. Wer eine Kippa trägt oder homosexuell ist oder wer einfach ein bisschen dicker ist, darf nicht ausgeschlossen werden, nicht auf dem Schulhof, nicht auf der Straße. In der Verschiedenheit liegt unsere Stärke. Aber das heißt nicht, dass wir uns in einer bunten Multi-Kulti-Welt befinden, in der jeder machen kann, was er will.

Klingt nach Freiheit.

Das wäre Chaos ohne Sinnhaftigkeit, auch nicht für den Einzelnen. Schade, dass die Grünen so lange den kulturellen Konsens bestimmt haben mit dem Motto: Jeder macht was er will, irgendwie sortiert es sich von selbst. Aber es sortiert sich eben nicht von selbst, Multikulti ohne Regeln funktioniert nicht. Wir müssen den Menschen einen Rahmen geben. Mir hätte es nicht geholfen, wenn man mir als Fünfjährigem gesagt hätte: Willkommen in Deutschland, Du musst dich nicht ändern, es regelt sich schon irgendwie, alles jut. Mir hat geholfen, dass mein Vater gesagt hat: Das ist jetzt Dein Land. Und dass mir andere zuriefen: Bei uns in Deutschland achten wir darauf, dass wir Deutsch reden. Ja, wir achten sogar darauf, dass wir Müll nicht einfach auf die Straße schmeißen, sondern in die Tonne und am besten noch getrennt. Manche kippen ihren Abfall auch einfach auf den Bürgersteig, weil sie es nicht anders kennen und weil sie das gar nicht wissen: dass man in Neukölln den Sperrmüll nicht auf die Straße wirft.

Ihre neue linke Leitkultur funktioniert also nur durch Anleitung, durch Vorgaben. Ist das links?

Ohne Vorgaben klappt es nicht in einer Gesellschaft. Überall gibt es Hausordnungen. Ohne Regeln holt sich der Stärkste sein Recht, der mit den stärksten Muskeln, mit der stärksten Lobby oder dem meisten Geld. Deshalb müssen wir etwas von uns verlangen können, auch von den Zuwanderern. Nämlich gewisse gesellschaftliche Regeln einzuhalten. Wir wollen doch nicht wieder 15 Jahre warten, ob sich jemand integriert und uns dann wundern, falls es nicht klappt.

Und dann engagieren wir Moralwächter wie im Iran, die das Aufblühen der neuen Leitkultur überwachen?

Das ist jetzt sarkastisch. Nein, wir wollen einladen zur Debatte – und wir müssen uns dabei etwas zumuten. Warum gehen wir nicht in die Flüchtlingsunterkünfte oder an die sozialen Brennpunkte und reden mit den Menschen über ihre Ängste und unsere Kultur? Es geht nicht um neue Gesetze, um kalte Buchsstaben. Es geht um einen neuen gemeinsamen Kanon. Da können wir gerne eine Kommission gründen, darüber debattieren, wie man gewaltfreie Erziehung etabliert und für Umweltschutz wirbt. Aber wichtiger ist: Wir müssen aufhören, Neuankömmlinge und neue Sichtweisen in unserer Gemeinschaft nur zu dulden. Dulden, indem wir Menschen in Hartz IV schieben und so in Abhängigkeit halten, ohne echte Perspektiven zu bieten. Dulden, indem wir Menschen jahrelang als Asylbewerber abstempeln, ohne ihnen eine echte Bleibemöglichkeit zu geben. Nein! Dulden heißt Beleidigen. Und wissen Sie, was noch eine Beleidigung ist: Wenn wir uns von Kriminellen auf der Nase herumtanzen lassen: von verbrecherischen Clans, von Nazis, von islamischen Fanatikern. Schluss damit! Ich kann Ihnen sagen, wer die härtesten Strafen für kriminelle Migranten fordert: die Flüchtlinge selbst. Dafür brauchen wir keine Moralwächter, dafür brauchen wir schlicht einen gesunden gesellschaftlichen Kompass, der auch eingehalten wird.

Raed Saleh wurde 1977 im Westjordanland geboren, seine Heimat aber ist seit dem fünften Lebensjahr Berlin-Spandau. Hier ging Raed Saleh zur Schule und machte sein Abitur, hier lebt der bekennende Muslim bis heute mit seiner Frau und den zwei Kindern. 1995 trat Saleh in die SPD ein, seit 2006 ist er Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Seit 2008 ist er Kreisvorsitzender der SPD Spandau und Mitglied des Landesvorstands. Die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus leitet er seit 2011.

Beruflich war Raed Saleh von 1994 bis 2006 bei der Unternehmensgruppe Mitrovski als leitender Angestellter tätig, die unter anderem Schnellrestaurants betreibt. Am Dienstag erscheint sein Buch „Ich deutsch“ – ein Plädoyer für eine neue Leitkultur (Hoffmann und Campe).

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