Flüchtlinge an Schulen in Berlin: Willkommensklassen dürfen keine Verzweiflungsklassen sein
Das Schuljahr beginnt, die wichtigste Frage lautet: Wie können wir tausenden Flüchtlingskindern beistehen? Auch der Senat ist gefordert. Ein Kommentar.
Hefte, Stifte, Ranzen, Monatskarte – alles gekauft! Und auch die Lehrer sind schon da. Ein Schulstart, wie er im Buche steht, und doch ganz anders als sonst. Denn dieses Jahr wird nicht im Zeichen von Reformen oder der üblichen Querelen um verrottete Fenster und Dächer stehen, sondern im Zeichen der Flüchtlinge. Auf der langen Skala von Wichtig bis Unwichtig befindet sich in diesem Schuljahr an erster Stelle die Frage, wie die Schulen den tausenden Flüchtlingskindern beistehen können.
Wer noch zweifelt an der Relevanz des Themas „Flüchtlingsklassen“, die man auch „Willkommensklassen“ nennt, muss nur einen Blick auf die neuesten Zahlen werfen. In Koalitionskreisen ist schon von bis zu 70.000 Flüchtlingen die Rede. Man muss kein Rechenkünstler sein, um herauszufinden, was das für Berlins Schulen bedeutet: Aus jetzt 5000 Schülern in Willkommensklassen werden sehr schnell 10.000 werden. Oder mehr.
Optimisten könnten sagen, dass das doch alles gar nichts sei für die Berliner Schulen, die doch zehntausende Flüchtlinge in den vergangenen Jahrzehnten integriert haben. Und dazu eine noch größere Zahl von Zuzüglern aus der Türkei, die allesamt kein Deutsch sprachen. Deren Mütter Analphabeten waren und auch heute noch sind, sofern sie aus dem anatolischen Hinterland als Bräute nach Berlin geholt wurden und werden.
Leistungsunterschiede sind noch immens
Tatsächlich ist es so, dass Berlins Schulen eine ungeheure Integrationsleistung vollbracht haben. Jedes Jahr wächst der Anteil an Kindern nicht deutscher Herkunft um rund ein Prozent, inzwischen liegt er an den Grundschulen bei rund 40 Prozent. In Mitte schon bei 75 Prozent. Ganze Generationen von Lehrern haben sich an dieser Aufgabe verschlissen und es geschafft, dass der Anteil dieser Kinder, die das Abitur schafft, sich verdoppelt hat.
Pessimisten aber könnten eine ganz andere Rechnung aufmachen. Sie könnten zum Beispiel darauf verweisen, dass die Leistungsunterschiede zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund noch immer immens sind, und das, obwohl jedes Jahr rund 40 Millionen Euro allein in die Sprachförderung fließen. Und dass diese Probleme und Differenzen nicht kleiner, sondern größer werden, wenn jetzt auch noch eine fünfstellige Zahl von Flüchtlingskindern hinzukommt.
Analphabeten und Traumatisierte
Denn unter denen, die da kommen, sind abermals viele Analphabeten: Zehnjährige, die kein „A“ kennen, 16-Jährige, die nur drei Jahre die Schule besucht haben. Und es gibt hunderte Traumatisierte, deren Zustand auch nicht besser wird, wenn sie jederzeit mit Abschiebung rechnen müssen, während sie in muffigen Turnhallen oder stillgelegten Kasernen mit ihren Familien ausharren.
Wenn ein Berliner Bildungsforscher die Berliner Willkommensklassen jetzt „Verzweiflungsklassen“ nennt, gibt das schon ganz gut wieder, was sich im vergangenen Schuljahr in etlichen Schulen abgespielt hat und auch in diesem Schuljahr abspielen wird.
Berlin hinkt gerade beim Deutsch für Migranten hinterher
Allerdings hat der Senat eine Unzahl von Stellschrauben, an denen er drehen kann, um die Lage zu verbessern. Dazu gehört nicht nur, dass er Doppelschichten beim Landesamt für Gesundheit anordnet oder ausreichend Schulräume schafft. Dazu gehört auch, dass er den Lehrern hilft, mit ihrer Aufgabe zurechtzukommen.
An dieser Stelle allerdings versagen Universitäten und Senatsverwaltung für Wissenschaft ganz immens. Denn die große Frage, wie die deutsche Sprache einem Kind beizubringen ist, das eine andere Muttersprache hat – diese Frage wird in der Stadt mit den größten Migrantencommunities Deutschlands noch immer nicht auf der Höhe der Zeit behandelt. Keine einzige gut ausgestattete Professur wurde dafür geschaffen: Forschung findet kaum statt.
Wem das aufgefallen ist? Berlins erfolgreichster, langjähriger und längst pensionierter Ausländerbeauftragten Barbara John, die dafür bekannt ist, sich für eine realistische Sicht auf die Dinge zu entscheiden, wenn Optimisten und Pessimisten wild durcheinanderrufen. Übrigens: Eine Nachfolgerin ihrer Nachnachfolgerin hat der Senat auch noch nicht gefunden.