Nachruf auf Manfred Steinkühler (Geb. 1929): Wie soll man wissen, welche Knochen wem gehören?
Ein konservativer Mann aus bürgerlichem Haus gerät in das Auswärtige Amt, das seine Vergangenheit beschweigt. Er macht da nicht mit. Er macht sich Feinde.
"Es ist ein Jammer, dass die Toten die Aussicht nicht genießen können.“ So beginnt ein Text in der „FAZ“ vom 10. Mai 1989. „Denn für den deutschen Soldatenfriedhof in der Gemeinde Costermano am Gardasee hat man sich ein schönes Fleckchen Erde ausgesucht.“ Die Beschreibung gewinnt an Schwung: Felsen, der See, in den man munter springen möchte, der segelnde spanische König, Zypressen, die Alpen. Alles so idyllisch hier, „ein würdiges Gesamtbild“. Wäre da nicht dieser Deutsche, der das Bild beschmutzt. Manfred Steinkühler, Generalkonsul in Mailand, hat sich am Volkstrauertag geweigert, an der jährlichen ehrenden Veranstaltung teilzunehmen.
Es ist ein Jammer, nicht nur für die mehr als 20.000 deutschen Soldaten, die während des Zweiten Weltkrieges in Norditalien starben und auf dem Friedhof begraben liegen. Es ist ein Jammer auch für die anderen Toten dort, SS-Männer, ausgewiesene Vernichtungsspezialisten, die regen Anteil hatten an der Ermordung von Juden, geistig Behinderten, Zwangsarbeitern, von Deserteuren, die sich entschlossen hatten, auf der Seite der italienischen Partisanen zu kämpfen.
Ein Jammer? Jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck, liest man, was der „FAZ“-Autor, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge sowie eine Reihe von Beamten des Auswärtigen Amtes dazu zu sagen haben. Sie wollen, dass es so bleibt, wie es ist: die Gräber, auf denen die Dienstgrade der SS-Männer zu lesen sind; die „Ehrenbücher“, die in einer „Ehrenhalle“ ausliegen. Ihre Argumentation: Die Toten sind erstens nun einmal tot, ob Opfer, ob Täter. Zweitens wäre es ungerecht, den vielen die Ehre zu verwehren aufgrund der Verfehlungen weniger. Und drittens gibt es die zutiefst christliche Überzeugung, dass das Urteil nach dem Tod Gott zu überlassen sei. Gott. Nicht einem moralisierenden Generalkonsul.
Keine Rede von den Millionen, die die Nazis umgebracht haben, die diese ganze Gardasee-Idylle auch nicht mehr genießen können.
Sein Vorgesetzter: damals in der NSDAP
Nicht zum ersten Mal fällt Manfred Steinkühler damals das Faule im Staate auf. Schon 1951, als er in Göttingen und Münster Vergleichende Literaturwissenschaft zu studieren beginnt, staunt er über die Vergangenheit etlicher Hochschullehrer. Hört während eines Seminars nicht auf zu fragen, bis ihn der Professor rausschmeißt.
Auslandsaufenthalte folgen. An der Sorbonne schreibt er seine Dissertation über Arthur de Gobineau, dessen Schrift „Über die Ungleichheit der Menschenrassen“ die Theorie zur nationalsozialistischen Praxis lieferte.
Er will, dass die Vertuschung, das Schweigen endlich aufhören. Bekommt eine Stelle in der Auslandsabteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Von Aufarbeitung keine Spur. Sein unmittelbarer Vorgesetzter dort: Günter Diehl, 1938 NSDAP, 1939 Auswärtiger Dienst, ab 1952 wieder Auswärtiges Amt.
Er möchte nach Mailand. Zustimmen muss der Botschafter in Rom, Herbert Blankenhorn: ab 1929 Auswärtiges Amt, ab 1938 NSDAP. Nach Mailand kommt Bukarest. Botschafter dort Erwin Wickert: 1933 SA-Anwärter, 1939 Auswärtiges Amt, 1940 NSDAP.
Nach Bukarest Rio de Janeiro, als Generalkonsul. 1977 soll eine deutsche Wirtschaftsdelegation in die Stadt kommen. Kurz vor der Abreise wird Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, von der RAF erschossen. Die Delegation erscheint dennoch. Auf einem Empfang bemerkt der Sprecher einer anderen Großbank: „Hätte Adolf Hitler noch gelebt, wäre dieser Mord nicht geschehen.“ Steinkühler entgegnet: „Ich bin ein auf das Grundgesetz vereidigter Beamter. Wären die Brasilianer nicht unsere Gastgeber, ich würde die Veranstaltung sofort verlassen.“ Noch bleibt er.
Und erkennt, im Nachhinein, eigene Versäumnisse. Das Auswärtige Amt hatte stets die Legende verbreitet, nur unter Druck die Eroberungspolitik der Nazis vertreten zu haben. Steinkühler beteiligt sich an dieser Legendenbildung: Er muss eine Schrift zur Geschichte des Auswärtigen Amtes aktualisieren. Obwohl ihm auffällt, dass die NS-Vergangenheit darin mit keinem Wort erwähnt wird, obwohl er die Lücke schließen könnte, tut er nichts. „Ich zog aus diesem Fehler die Lehre, künftig nichts mehr aus dieser Zeit des Auswärtigen Amtes zu verschweigen.“
1987 kehrt er als Generalkonsul nach Mailand zurück. Und macht die zur Gewohnheit gewordenen Erfahrungen: SS-Führer-Fotos an den Botschaftswänden, die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Hans-Otto Meissner, 1933 SS, 1941 Generalkonsul in Mailand, 1944 Teilnehmer an der Tagung in Krummhübel, auf der über die Ausweitung der Judenverfolgung beraten wurde. Steinkühler protestiert gegen die Ordensverleihung. Vergeblich.
1987 nimmt Steinkühler noch an der üblichen Ehrenveranstaltung zum Volkstrauertag auf dem Friedhof von Costermano teil. Im Jahr darauf erfährt er, dass dort auch ein SS-Mann liegt. Christian Wirth: 1931 NSDAP, 1939 SS-Obersturmführer, 1940 Entwicklung der Kohlenmonoxidvergasung und Teilnahme an der „Aktion T4“, Bezeichnung für die Ermordung von mehr als 70 000 Menschen mit Behinderung, 1941 Wechsel zur „Aktion Reinhardt“, Bezeichnung für die Ermordung von zwei Millionen Juden und 50 000 Roma in Belzec, Sobibor und Treblinka, 1943 Aufbau des Konzentrationslagers Risiera di San Sabba in Triest. Alles mit dem Einverständnis des Auswärtigen Amtes.
Kein Hinweis auf die Täter
Er erfährt von zwei weiteren Kriegsverbrechern, die in Costermano liegen: Franz Reichleitner, Kommandant in Sobibor, und Gottfried Schwarz, stellvertretender Lagerkommandant in Belzec.
Hier will Manfred Steinkühler kein weiteres Mal ein Ehrengedenken abhalten. Er gerät mit Kollegen seines Amtes und mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge aneinander. Schlägt vor, die Gebeine der drei Kriegsverbrecher exhumieren zu lassen und auf einen Zivilfriedhof in Deutschland zu überführen. Der Vorschlag wird abgelehnt. Zumal es ein Abkommen zwischen Italien und dem Volksbund gibt, das die Existenz der Gräber „auf ewig“ garantiert. Und: Es handelt sich um Doppelgräber; auf jedem Stein stehen zwei Namen. Wie soll man da wissen, welche Knochen wem gehören?
Manfred Steinkühler, ein eher konservativer Mann aus bürgerlichem Haus, denkt zu diesem Zeitpunkt noch, man könne präzise zwischen Scheusalen und „der sauberen Wehrmacht“ unterscheiden. Er wird eines Besseren belehrt.
Nur wenige Exhumierungen vorzunehmen, ist also keine Lösung. Dennoch muss etwas passieren. Aber es passiert nichts. Niemand, nicht das Auswärtige Amt, nicht der Volksbund, der vom Auswärtigen Amt bezahlt wird, ist an einer Aufarbeitung interessiert.
Manfred Steinkühler ersucht um seine Entlassung. Das Amt behauptet offiziell, er sei aus Altersgründen ausgeschieden. Er widerspricht, auch offiziell.
In Italien wird inzwischen heftig über den Friedhof diskutiert. Bewegung kommt in die Sache. 1992 wird eine Tafel am Friedhof aufgestellt: „Den Opfern von Krieg, Unrecht und Verfolgung.“ Kein Hinweis auf die Täter. Manfred Steinkühler hält mit einem Pappschild Mahnwachen in Costermano.
2004 erscheint ein offener Brief von italienischen und deutschen Journalisten, Historikern, Künstlern, die eine neue Gedenktafel und die Entfernung der Ehrenbücher fordern. 2006 werden die Ehrenbücher entfernt, Informationstexte werden angebracht. Um die Wortwahl wurde lange gefeilscht. „Verbrechen gegen die Menschheit“ soll da nicht stehen, keine Rede von Deserteuren, da sie noch immer als Verräter gelten.
2010 hat eine Historikerkommission ihren Bericht zur Geschichte des Auswärtigen Amtes veröffentlicht. Darin wird die Verstrickung in die schlimmsten Verbrechen offengelegt. Manfred Steinkühler hinterließ ein autobiografisches Manuskript. Freunde bemühen sich um seine Veröffentlichung.
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