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„Wer Erkältungssymptome hat, bleibt zu Hause“ - diese Regel wird die Friedrichshainer Firmer nun besonders beachten.
© Thomas Trutschel/imago images/photothek

„Alle, die hier sitzen, waren krank“: Wie sich eine Berliner Büroetage beinahe komplett infizierte

In Friedrichshain hatte sich fast ein gesamtes Unternehmen mit Sars-Cov-2 angesteckt. Wie konnte das passieren? Eine Spurensuche.

Ein Ingenieurbüro in Friedrichshain. Der Chef, der hier auf seinen Wunsch mit T. abgekürzt wird, macht eine kleine Führung. Hier, sagt er, und deutet in ein Zimmer gleich am Anfang des Flurs, aus dem eine junge Frau hinter einem Monitor hervorlächelt. „Die Mitarbeiterin und die Kollegin im Einzelbüro gegenüber haben damals extra ihre Türen zugemacht. Trotzdem haben sie sich infiziert.“ 

T. läuft ein paar Meter weiter und biegt in ein Gemeinschaftsbüro ein: auf rund 40 Quadratmetern stehen hier fünf Schreibtische im Abstand von zwei Metern hintereinander gestaffelt. „Alle, die hier sitzen, waren krank!“

Fast seine ganze Firma hatte sich mit Covid-19 angesteckt. Sie mussten sogar eine Woche lang schließen, denn Mitarbeiter aller Bereiche lagen im Bett. 25 von 30 waren an Covid-19 erkrankt. Vier der fünf, die nichts hatten, waren zu der Zeit nur sporadisch im Büro. 

„Unsere Buchhalterin ist die Einzige, die immer hier war und auf unerklärliche Weise gesund geblieben ist“, sagt T. „Dabei sitzt sie gegenüber der Office-Managerin, und die war auch krank.“ Eine weiträumige Friedrichshainer Büroetage wird zum Seuchenherd – wie konnte das passieren?

Schon früh Vorsichtsmaßnahmen

Sie umarmten sich nicht zur Begrüßung, versichert T. Bereits Ende Februar, als Corona in Deutschland noch etwas Abstraktes war, schrieb T. in einer Rundmail, dass sie erst mal auf Handschlag verzichten sollten. 

Bei dem Ingenieurbüro steckte sich fast die gesamte Belegschaft an.
Bei dem Ingenieurbüro steckte sich fast die gesamte Belegschaft an.
© Imago/Seeliger

Außerdem empfahl er: Hände waschen, Dienstreisen nur noch im Notfall. „Desinfektionsmittel“, sagt er, „hatten wir sowieso immer in den Toiletten.“ 

Meetings wurden auf fünf Teilnehmer begrenzt, das Treffen der deutschen Niederlassungsleiter, das in der ersten Märzwoche hier im Büro stattfinden sollte, wurde abgesagt. Die beiden Leiter der Dresdner und Tübinger Dependance, die ohnehin in der Stadt waren, kamen trotzdem – und steckten sich an.

Erste Infektionen Anfang März

Die ersten beiden Mitarbeiter, erzählt T., meldeten sich an einem Dienstag Anfang März krank. Erst am Tag zuvor waren sie aus dem Urlaub zurückgekehrt, den sie mit zwei weiteren Kollegen samt Familien verbracht hatten. T. selbst bekam am Wochenende darauf Fieber und Kopfschmerzen. „Dann kam der trockene Husten.“ Montags konnte er nicht zur Arbeit. 

Es war die Aushilfs-Buchhalterin, 66, chronisch lungenkrank, die im Sekretariat saß und die Krankmeldungen entgegennahm. Allein 15 waren es an diesem Tag. Zehn weitere kamen im Lauf der Woche hinzu. Dazu zählte auch die Aushilfs-Buchhalterin selbst.

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Nachdem er von den vielen Kranken erfahren hatte, erkundigte sich T. bei einem befreundeten Arzt, der beschwichtigte. „Ihr habe alle keine Atemnot. Das ist eine normale Grippe.“ 

Erst spät kommt der Corona-Verdacht 

Der Verdacht auf Corona verdichtete sich, als zwei Tage später ein Werksstudent bei T. anrief: Er war am 29. Februar in der „Trompete“ gewesen.

Das war der Abend, an dem sich rund 50 Berliner in der Bar angesteckt hatten. Auch der Werksstudent wurde später positiv getestet. Doch es blieben Ungereimtheiten. Die Urlaubsheimkehrer, die erkrankt waren, waren ihm nie begegnet. Der Werksstudent war mittwochs nur für ein paar Stunden im Büro gewesen – ohne jedes Symptom.

In der Woche darauf kamen die ersten Meldungen auf, dass Tiroler Skigebiete Infektionsherde waren. Die vier Kollegen waren in St. Anton. Da ahnte T., dass das Virus womöglich von zwei Seiten in seine Firma hereingetragen worden war. 

Hohe Virenlast und geringer Luftaustausch

Erschwerend hinzu kam, dass einer der Skifahrer bereits vor, aber auch nach seinem Urlaub starken Husten hatte und so die Viren wahrscheinlich auf den Fluren verteilte. Mit „hoher Viren-Last und geringem Luftaustausch“ – die Fenster in der ausgebauten Fabrik sind neu und sehr dicht – erklärt sich T. die immense Ansteckungsrate ausgerechnet bei ihm.

Er selbst war zwei Wochen lang krank. Trotzdem hat er jeden Morgen herumtelefoniert, um sich zu erkundigen, wie es den Mitarbeitern geht. „Die Aushilfs-Buchhalterin machte uns besonders große Sorgen.“ Alle rochen und schmeckten nicht mehr. Fast alle hatten ihre Partner angesteckt.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

T.s gesammelte Covid-19-Krankengeschichten sind fast so etwas wie eine kleine Heinsberg-Studie, bei der man erstmals statistisch Corona-Verläufe erfasste und die Dunkelziffer berechnete. 

Zwei Kollegen im Krankenhaus

Zwei Kollegen, berichtet T., waren im Krankenhaus. Einer nur zur Beobachtung. Der Dresdner Niederlassungsleiter, ein durchtrainierter Läufer, musste mit Lungenentzündung behandelt werden. Er war am Wochenende, nachdem er sich infiziert hatte, noch einen Halbmarathon gelaufen.

„Meiner Erfahrung nach hat es diejenigen, die sich im Anfangsstadium der Krankheit belastet haben, schwerer erwischt“, glaubt T. Auch der Deutschland-Chef aus München, der sich bei ihnen angesteckt hatte und trotzdem vom Sofa aus noch ein großes Arbeitspensum erledigt hatte, kämpfte letztlich länger mit der Krankheit als andere.

Ältere litten länger an Covid-19

Einen Unterschied zwischen Frauen und Männern bemerkte T. nicht. „Zu unserer großen Erleichterung ging es der Aushilfs-Buchhalterin nach acht Tagen wieder besser“, sagt er. Die Jüngeren hatten die Krankheit in der Regel schneller überstanden als die Älteren. „Diejenigen, die zwischen 30 und 40 waren, laborierten so sieben bis neun Tage daran herum, die älteren zehn bis 14.“

T. selbst öffnete als Erster zusammen mit der Buchhalterin, die die ganze Zeit gesund geblieben war, nach zwei Wochen das Büro wieder. „In den Tagen darauf tröpfelten die ersten Mitarbeiter wieder ein. Wir waren richtig euphorisch, dass wir das jetzt hinter uns haben und immun sind.“ Günstig fürs Betriebsklima ist sicher auch, dass sich die Scham, die anderen angesteckt zu haben, auf fünf Kollegen verteilte.

Es ist ein markanter Punkt in der Unternehmensgeschichte. „Ich habe dem Robert-Koch-Institut geschrieben und unsere kleine Kohorte für Studienzwecke vorgeschlagen“, sagt T. lachend. „Sie meinten, dass sie vielleicht darauf zurückkämen.“ Eines hat er selbst daraus gelernt: „Wer Erkältungssymptome hat, arbeitet von zu Hause.“

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