Musik zum Film "The Revenant": Wie man DiCaprio zum Klingen bringt
Carsten Nicolai machte die Musik zum Film „The Revenant“ – bei der Berlinale erzählte er von seiner Arbeit.
„Kannst du 36 Sekunden wie einen Monat wirken lassen?“ Oder: „An der Stelle brauchen wir etwas mehr Staub“. Es war eine ganz besondere Zusammenarbeit zwischen dem Berliner Carsten Nicolai und dem Filmteam von „The Revenant“. Sieben Wochen lang arbeiteten sie im kalifornischen Santa Monica an der Filmmusik zu dem Historien-Western des Regisseurs Alejandro González Iñárritu. So kryptisch die Kommunikation im Team auch war, anscheinend haben sie sich verstanden. Dezent und doch spannungsgeladen ist die Musik, die Carsten Nicolai gemeinsam mit dem japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto entwickelte.
Als Experte ist der 51-jährige Elektromusiker nun zum Netzwerktreffen „Berlinale Talents“ im Hebbel am Ufer gekommen. Sein Publikum sind junge Talente aus dem Filmgeschäft, viele noch am Anfang ihres filmischen Schaffens. Nicolai hat eigene Kurzfilme und Ausschnitte aus dem Hollywood-Film mitgebracht, und das Publikum hat vor allem praktische Fragen.
Erste Filmmusik
Wie arbeiten Sounddesigner und Komponisten zusammen? Welche Schnittprogramme benutzt er? Nicolai beantwortet ihre Fragen auch noch, als die Runde offiziell beendet ist. Dabei ist der Terminplan voll, seit wenigen Stunden erst ist er aus London zurück:Dort waren er und Sakamoto bei den British Academy Film Awards für die beste Filmmusik nominiert.
Ennio Morricone gewann allerdings den Preis. Dafür wurde „The Revenant“ als bester Film und Leonardo DiCaprio als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet, Alejandro González Iñárritu erhielt den Preis für die beste Regie. Wie die Zusammenarbeit zwischen Nicolai und dem Hollywoodteam war, interessiert das Publikum der Berlinale brennend. „Iñárritu ist ein sehr guter Zuhörer und hat ein großes Wissen über Filmmusik“, sagt Nicolai. „Aber er fordert, dass man zu hundert Prozent involviert ist.“
Die Einladung, an „The Revenant“ mitzuwirken, kam von Ryuichi Sakamoto. Für Nicolai war es die erste Filmmusik. Sakamoto dagegen hat schon an vielen Soundtracks mitgewirkt und gewann 1988 mit „Der letzte Kaiser“ einen Oscar. Seit vielen Jahren arbeitet Nicolai mit ihm zusammen. Fünf Alben haben sie bereits produziert, bei ihren Auftritten verbindet sich oft orchestrale Musik mit am Computer entstandenen elektronischen Klängen; Videos von Licht und Farben kommen dazu.
Seit 20 Jahren in Berlin
Mit ihren audiovisuellen Konzerten und Performances waren sie schon bei der Ruhrtriennale, im Berghain und im New Yorker Guggenheim Museum. Kennengelernt haben sie sich bei einem der ersten Konzerte Nicolais, 1997 in Tokio. Der japanische Pianist und Komponist schlug ihm damals vor, einen Remix aus Sakamotos aktuellem Album zu machen. So unkompliziert wie das Kennenlernen gestaltet sich seitdem ihre Zusammenarbeit. So bat Nicolai den Komponisten, die Musik zu seinem Kurzfilm über ein Corbusier-Wohnhaus in Nantes zu entwickeln – ohne dass Sakamoto das Haus selbst besucht hätte. „Wir haben viel Vertrauen in die Arbeit des anderen und eine enge Verbindung.“
In Berlin lebt Nicolai seit zwanzig Jahren; in Mitte hat er sein Studio, in Mitte wohnt er auch. „Je mehr ich reise, desto mehr wird mir klar, wie unaffektiert Berlin ist und wie viel geistigen Raum es bietet.“ Ursprünglich kommt er aus Chemnitz, und ein bisschen hört man den sächsischen Dialekt noch. Bei den Berlinale Talents präsentiert sich „Alva Noto“ – so lautet sein Pseudonym als Musiker – ganz in Schwarz und Weiß gekleidet, fast so minimalistisch wie seine Musik.
Nicolai ist zwar als Experte zur Berlinale gekommen, doch eigentlich sieht er sich als Quereinsteiger. In Dresden studierte er Anfang der 90er Jahre Landschaftsarchitektur – und obwohl keine Karriere in diesem Beruf folgte, ist in seinen Installationen etwas davon geblieben.
Psychologie und Mathematik
Der Kurzfilm „Future Past Perfect pt. 0“, den Nicolai bei „Berlinale Talents“ zeigt, ist beinahe unangenehm nah: Formationen in Rot, dazu ein vibrierender Bass und stechende Klänge. Das Publikum ist nervös, hustet, fährt sich durchs Haar. Sind das Bilder eines fernen Planeten oder einen Mikrokosmos, Nahaufnahmen aus dem Inneren eines menschlichen Körpers? Carsten Nicolai löst auf: Es sind Detailaufn ahmen eines Canyons.
„Wir alle stellen automatisch eine Beziehung zwischen Klang und Farbe her“, erklärt Nicolai. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus Psychologie und Mathematik liegen vielen seiner Arbeiten zugrunde. Immer wieder macht er den Zufall zum Thema seiner Licht- und Klangproduktionen. Dabei lotet der 51-Jährige die Grenzen zwischen Klangkunst, Film, Installation und Performance aus, künstlerische Kategorien lehnt er ab.
Für den Soundtrack zu „The Revenant“ gab es keine Oscar-Nominierung. Die Begründung der Academy: Es sei nicht klar, wie genau die Zusammenarbeit unter den beiden Komponisten ausgesehen habe, erzählt Nicolai. Das wäre nicht das erste Mal, dass die Academy ein eher konservatives Bild abgibt. Trotzdem, den Film sieht man jetzt anders – wenn man die Augen schließt. Filmgeräusche vermischen sich mit Melodien, verschmelzen zu einer akustischen Kulisse: experimentell, stimmungsvoll und präzise.
Jana Scholz