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Anwalt, Akte und Mandant. Anwalt Handrik Pekárek (links) und sein Mandant Arthur Lezghintsev beim Gespräch in den Räumen der Kanzlei Ignor & Partner.
© Anna Eckold

Im Auftrag autoritärer Regime: Wie Interpol und das BKA politisch motivierte Fahndungen unterstützen

Interpol und das BKA lassen sich von Autokraten instrumentalisieren, um Oppositionelle festzusetzen. Ein Berliner Anwalt kämpft dagegen.

Diese Reportage ist im Magazin Tagesspiegel BERLINER erschienen. Am Ende des Textes befindet sich ein Glossar zur Erklärung wichtiger Personen und Begriffe.

An einem warmen Tag des vergangenen Sommers wurde der russische Geschäftsmann und frühere Politiker Arthur Lezghintsev am Flughafen Berlin-Tegel von der deutschen Polizei verhaftet. Der Vorwurf: Betrug in Millionenhöhe. Die Beweislage: unbekannt. Auf dem Papier musste das Fahndungsersuchen, dass die Russische Föderation über Interpol versandt hatte, für die Bundespolizisten einwandfrei aussehen:

Wanted Person Diffusion
Fahndung nach Lezghintsev, Arthur
Geboren am 6. Januar 1970
Größe: 170 cm
Haarfarbe: dunkel
Tatvorwurf: gewerbsmäßiger Finanzbetrug, strafbar nach §159 Absatz 4 des russischen Strafgesetzbuches, namentlich: Betrug, der von einer organisierten Gruppe oder in besonders großem Umfang begangen wird
Strafmaß: 10 Jahre Haft
Action to be taken: locate and arrest

Die Polizisten taten, was das Ersuchen verlangte. Interpol hatte den Fall ja geprüft. Das BKA in Wiesbaden hatte den Fall geprüft. Das Auswärtige Amt, das Bundesamt für Justiz, alle in fragwürdigen Fällen zu konsultierenden Behörden hatten offenbar keine Einwände gehabt. Die Falle schnappte zu.

Arthur Lezghintsev hatte sich an diesem Morgen in Istanbul von seiner Frau und seinen Kindern verabschiedet und war arglos in das Flugzeug nach Tegel gestiegen. Die Sommerferien waren vorüber, einen Arzttermin wollte Lezghintsev in Berlin noch wahrnehmen. Seine Mutter würde in wenigen Tagen Geburtstag feiern. Dann wollte er endlich zurück nach Hause nach Dagestan.

Die Bundespolizisten brachten ihn in die Gefangenensammelstelle am Tempelhofer Damm, wo Lezghintsev zwischen Obdachlosen und Drogensüchtigen saß und noch in der Nacht von einer Panikattacke heimgesucht wurde.

Lezghintsev, der in Wahrheit anders heißt, ist kein Einzelfall, bei Weitem nicht. Immer wieder werden über Interpol verbreitete Fahndungen von Diktatoren, Autokraten und korrupten Rechtssystemen genutzt, um unliebsame Personen von deutschen Polizisten festnehmen zu lassen. Einige, längst nicht alle, haben für Empörung in der Öffentlichkeit gesorgt:

2003 saß der russische Geschäftsmann und Oppositionelle Andrej Drobinin wegen eines Festnahmeersuchens der Russischen Föderation 40 Tage in Berlin-Moabit ein.

2008 wurde der US-amerikanische Geschäftsmann Ilya Katsnelson festgenommen und fast zwei Monate in einem Hochsicherheitsgefängnis in Lübeck gefangen gehalten.

 Dass ihm eine Falle gestellt werden könnte, hat er früh geahnt

Im Juni 2015 verhaftete die Bundespolizei den aus Ägypten stammenden Al-Jazeera-Journalisten Ahmed Mansour am Flughafen Tegel wegen vorgeblicher Gewalttaten während einer Anti-Mubarak-Demonstration 2011.

Und im August 2017 wurde der aus der Türkei stammende deutsche Schriftsteller Dogan Akhanli in Granada wegen angeblicher Unterstützung einer Terrorgruppe, Vergewaltigung und eines Raubüberfalls auf Betreiben der Türkei festgenommen.

Geändert hat sich in all dieser Zeit nur eines: Die Zahl der Fälle, die drastisch angestiegen ist. Die britische NGO Fair Trials hat ermittelt, dass sich allein die Zahl der neu ausgestellten Interpol-Fahndungsersuche seit 2001 beinahe verzehnfacht hat, von jährlich knapp 1.400 Fahndungen auf 13.048 im Jahr 2017.

Arthur Lezghintsev war Abgeordneter des dagestanischen Parlaments und finanzierte die Opposition um Alexei Nawalny und Garri Kasparow. Sein Name wurde  aus Sicherheitsgründen geändert, ist der Redaktion aber bekannt.
Arthur Lezghintsev war Abgeordneter des dagestanischen Parlaments und finanzierte die Opposition um Alexei Nawalny und Garri Kasparow. Sein Name wurde  aus Sicherheitsgründen geändert, ist der Redaktion aber bekannt.
© Anna Eckold

Dass ihm eine Falle gestellt werden könnte, habe er früh geahnt, sagt Lezghintsev. Er hätte nur nicht damit gerechnet, dass er auch in Deutschland nicht sicher sein würde. Lezghintsev ist kein Typ, der sich leicht ins Bockshorn jagen lässt. Er ist als Geschäftsmann in Russland reich geworden, mit Widerstand kann er umgehen. Ganz sicher hat er nichts dafür übrig, sich einschüchtern zu lassen. Eine Haltung, die in Russland schnell gefährlich werden kann.

Lezghintsev ist Muslim und Lesgier, eine Volksgruppe aus dem Süden Dagestans. Geboren und aufgewachsen ist er nahe der Grenze zu Aserbaidschan, Ende der 80er zieht er nach Moskau, studiert an der geschichtswissenschaftlichen Fakultät, promoviert zum politischen System Dagestans und zieht schließlich in die Region Krasnodar am Schwarzen Meer.

 Wer hier Geld hat, hat Macht. Und wer Macht hat, der ist eine Gefahr

Krasnodar, die Kornkammer Russlands, gleichzeitig die Riviera des Landes, zugleich findet sich in Sotchi das Skigebiet der Reichen. Hier kauft Lezghintsev eine Sonnenblumenölfabrik. Und das ist relevant. Denn Krasnodar ist, nach Moskau, die am zweitdichtest besiedelten Region der Föderation. Hier kann Geld verdient werden. Und wer hier Geld hat, hat Möglichkeiten. Und wer Möglichkeiten hat, hat Macht. Und wer Macht hat, der ist eine Gefahr.

Ein paar Jahre sitzt Lezghintsev im Parlament von Dagestan, will, so erzählt er, etwas gegen die grassierende Korruption und Kleptokratie tun, später finanziert er Mitglieder der oppositionellen "Schattenregierung" um Alexei Nawalny und Garri Kasparow. Dann geht die Falle auf.

Als ein befreundeter Unternehmer stirbt, für den Lezghintsev gebürgt hatte, macht die staatliche Rosselkhozbank ihm ein Angebot, das keines ist: Er soll weiterhin einen Firmenkredit seines Freundes besichern. Lezghintsev sieht den Zinssatz - 25 Prozent pro Jahr - und lehnt ab. Er weiß, dass das andere Unternehmen eine solche Zinslast niemals bedienen könnte und er mit seiner eigenen Fabrik schließlich dafür haften würde. Es folgen Drohungen der Bank, dann Betrugsvorwürfe. Das folgende Ermittlungsverfahren ist komplex, im Grunde ist es ein Machtkampf zwischen Lezghintsev und der Bank, dem Oppositionellen und der Regierung. Bald geht es nicht mehr nur um die Firma des Freundes, sondern um Lezghintsevs Lebenswerk. Und um seine Freiheit.

Aber auch der russische Rechtsstaat verspricht einen Restschutz - ein offenkundig rechtswidrig erlassener Haftbefehl wird auf Lezghintsevs Beschwerde hin in erster Instanz aufgehoben. Als die Staatsanwaltschaft in die weitere Beschwerde geht, wird der ausführlich begründete Aufhebungsbeschluss vom nächsthöheren Gericht ohne Angaben von Gründen kassiert.

Lezghintsev, so sieht er das, verreist erst einmal. Agrarmessen in den USA, in den Emiraten, damit bringt er sich zugleich in Sicherheit. Als das Verfahren sich zieht, geht Lezghintsev nach Berlin, in der Hoffnung, es alles werde sich bald aufklären. Aber während der Unternehmer hier im Ritz Carlton sitzt und immer wieder mit seinem Anwalt telefoniert, geht das dubiose Ermittlungsverfahren weiter und der fadenscheinige Haftbefehl nach Moskau zum russischen Interpol-Büro, das weltweit um Lezghintsevs Festnahme ersucht. Dann wird Lezghintsev auf der Rückreise von einem Türkei-Urlaub am Flughafen Tegel festgenommen.

Sitzt am Tempelhofer Damm und bekommt nachts plötzlich keine Luft mehr. "Ich hatte plötzlich unfassbare Angst, dass mich niemand anhört und dass keiner erkennt, dass die Vorwürfe eine Lüge sind", sagt Lezghintsev. "Ich wusste, dass ich nichts Böses getan hatte. Aber ich wusste nicht, ob man mich noch als Menschen sieht. Oder nur als Fall."

Hendrik Pekárek ist Rechtsanwalt in der Berliner Strafrechtsboutique Ignor & Partner. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit liegen im Wirtschaftsstrafrecht, IT-Strafrecht sowie im trans- und  internationalen Strafrecht.
Hendrik Pekárek ist Rechtsanwalt in der Berliner Strafrechtsboutique Ignor & Partner. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit liegen im Wirtschaftsstrafrecht, IT-Strafrecht sowie im trans- und  internationalen Strafrecht.
© Anna Eckold

In einem unscheinbaren 80er-Jahre-Bau in der Grolmanstraße im Berliner Westen, unweit des Savignyplatzes, befinden sich die Räume der Kanzlei Ignor & Partner, einer sogenannten Strafrechtsboutique - wenige, hochspezialisierte Anwälte, fordernde Fälle, die im manchmal eher durch ihre Komplexität interessant werden als durch die Honorare. Am Ende eines etwas schmucklosen Ganges hat hier Hendrik Pekárek (5) sein Büro - der Mann, der Arthur Lezghintsev vor der Auslieferung bewahrt hat.

Pekárek ist groß und schlank, selbstbewusst und schnell. Er reißt zwei A4-Blätter aus einem Block und skizziert mit schnellen Strichen und kurzen Pfeilen den Weg, den ein Fahndungsgesuch aus dem Ausland nimmt, ehe erst das BKA Wiesbaden den Weg ebnet, dann die deutsche Polizei zugreift und schließlich ein deutsches Oberlandesgericht über die rechtliche Zulässigkeit der Auslieferung entscheiden muss. Er erklärt, was die Farbcodes von Interpol zu bedeuten haben, was es mit den sogenannten Red Notices, auf Deutsch: Rot-ecken, zu tun hat, der höchsten, aber auch am strengsten kontrollierten Fahndungsstufe von Interpol. Und wie man mit etwas Geschick durch die weniger regulierten so genannten Diffusionen (6), die seitens Interpol faktisch nicht auf Legitimität überprüft werden, ebenso gut Unschuldige festnehmen lassen kann.

"Natürlich sind die Fälle, die wir hier vertreten, Kollateralschäden, wenn man so will. Da wird ein Schlupfloch genutzt. Die Frage ist: Wie kann es überhaupt zu einem Schlupfloch im deutschen Rechtsstaat kommen?", sagt Pekárek. Die Antwort ist eine Erläuterung, in der ziemlich oft das Wort "eigentlich" fällt.

 Nicht alles, was den Anschein von Rechtsstaatlichkeit erweckt, ist rechtens

Eigentlich ist es Interpol laut Artikel 3 seiner eigenen Charta strikt verboten, "Eingriffe oder Aktivitäten durchzuführen, die politischen, militärischen, religiösen oder rassistischen Charakter haben."

Eigentlich ist es laut § 33 Absatz 3 BKA-Gesetz Aufgabe des BKA in Wiesbaden, alle von Interpol eingehenden Fahndungsgesuche einzeln zu prüfen und, falls den Fällen "besondere Bedeutung in politischer, tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung zukommt", das Referat 506 des Auswärtigen Amts und das Bundesamt für Justiz, eine dem Justizministerium untergeordnete Fachbehörde, zu kontaktieren. Und die Fahndungsgesuche erst dann in die deutsche Inpol-Datenbank der Polizei zu übertragen. Eigentlich sollten die Haftrichter, denen Menschen wie Lezghintsev nach ihrer Festnahme vorgeführt werden müssen, nach der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts mehr prüfen als vor allem die Identität der Gefangenen, die Auslieferungsregularien mit dem ersuchenden Land und das schiere Aktenzeichen der mitgeschickten Unterlagen.

Und eigentlich sollten mittlerweile alle deutschen Oberlandesgerichte wissen, dass diese Gesuche, die über Interpol, das BKA, das Auswärtige Amt, das Bundesamt für Justiz und die Amtsgerichte zu ihnen kommen, nicht wie vorgesehen schon dutzendfach eingehend geprüft wurden. Und dass nicht alles, was den Anschein von Rechtsstaatlichkeit erweckt, auch tatsächlich rechtens ist.

Natürlich ist das eine absurde Situation. Letztlich muss das Kammergericht in Berlin, das Oberlandesgericht in Brandenburg oder eines der anderen 22 Oberlandesgerichte in Deutschland entscheiden, ob der millionenschwere Betrugsfall irgendwo auf der Welt nun tatsächlich stattgefunden hat.

"Die deutsche Position ist: Wir erfüllen nur die Rechtshilfe für den anderen Staat", sagt Pekárek. "Aber in dieser Haltung liegt das Problem. Denn die deutsche Justiz will, kann und soll ja nicht der verlängerte Arm der türkischen oder der russischen Justiz sein."

Gemeinsam mit Kilian Wegner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht an der Bucerius Law School, hat Pekárek vor einigen Monaten einen vielbeachteten Aufsatz geschrieben, "'Mythos Interpol' und sein Missbrauch durch autoritäre Regime" heißt er. Darin erklären Wegner und Pekárek, wie die Fahndung durch Interpol für unschuldig Betroffene zum "juristischen Alptraum" werden kann.

"Die zum Teil fehlende Sensibilität der deutschen Strafverfolgungsbehörden für das Binnenrecht Interpols wiegt besonders schwer" schreiben Wegner und Pekárek, "wenn man bedenkt, dass ausländische Auslieferungsersuchen auch im späteren Auslieferungsverfahren nur noch rudimentär überprüft werden." Es ist ein leiser, vorsichtiger Satz. Aber der Verdacht, der darin steckt, wiegt schwer.

Auslieferungsverfahren von deutschen Oberlandesgerichten werden nur auf dem Schriftweg verhandelt, nie im Gerichtssaal. Dadurch wachsen die Akten schnell an: Bis heute umfasst der Fall Lezghintsev zwei dieser blauen Ordner, die alle Unterlagen umfassen, aus der Russischen Föderation und aus Deutschland.
Auslieferungsverfahren von deutschen Oberlandesgerichten werden nur auf dem Schriftweg verhandelt, nie im Gerichtssaal. Dadurch wachsen die Akten schnell an: Bis heute umfasst der Fall Lezghintsev zwei dieser blauen Ordner, die alle Unterlagen umfassen, aus der Russischen Föderation und aus Deutschland.
© Anna Eckold

Hendrik Pekárek würde das so plump sicher nicht formulieren, aber der Verdacht, der im Raum steht, lautet: Macht sich der deutsche Rechtsstaat letztlich zum Erfüllungsgehilfen von Diktatoren, Autokraten und korrupten Gerichten? Aus Kompetenzverweigerung, Bürokratieversessenheit und Desinteresse an den Staatsbürgern anderer Länder? Vertraut man naiv auf halbseidene Zusicherungen autoritärer Staaten? Verhaftet die deutsche Polizei Menschen, die nichts Unrechtes getan haben?

Der Mann, der diese Frage beantworten könnte wie kein Zweiter, sitzt in einem unrenovierten Eckbüro am Tränkweg in Wiesbaden. Das graue Betongebäude im Stil des Brutalismus liegt etwas überhalb der schmucken Innenstadt, der Bus der Linie 8 nimmt die steile Steigung Richtung Taunus, lässt die Villen hinter sich und biegt dann am Neroberg hart nach rechts: Hier residiert das Bundeskriminalamt.

 Das BKA müsste etwa 50 Interpol-Fahndungsersuche am Tag prüfen

Burkhard Heese, Ende 50, spindeldürr, raspelkurze, weiße Haare, trägt eine breite, blau-weiß-rot-gelb-grün-gestreifte Krawatte zum Nadelstreifenanzug. Auf seinem Schreibtisch liegt ein etwa 20 cm langes, abgenutztes Kantholz, auf dem mit Marker "Beiß-Holz" geschrieben steht. Heese ist der Leiter des Referats ZI 33, ZI steht für Zentrales Informationsmanagement; der Name seines Referats erklärt die Aufgabe: Interpol-Personenfahndung. "Hier wird jedes einzelne Gesuch gewissenhaft geprüft" sagt Heese. Über die Schreibtische in Heeses Referat, über die jeweils zwei schwarzen Monitore dort, sind dennoch alle Rotecken, Diffusionen und all die anderen Gesuche von Interpol gewandert: Die von Andrej Drobinin. Die von Ilya Katsnelson. Und im Sommer 2018 auch die von Arthur Lezghintsev.

Theoretisch ist die Lage eindeutig. "Im BKA wird jede Fahndung geprüft und entschieden, ob diese mit deutschem Recht vereinbar ist und ob in Deutschland Exekutivmaßnahmen durchgeführt werden können" heißt es auf der Homepage des BKA, wie es eben im "Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten" geregelt ist. Heese hat ein selbst gebundenes Exemplar davon am Schreibtisch. Er zeigt auf § 33 Absatz 3: "Das Bundeskriminalamt holt in Fällen des Absatzes 1, denen besondere Bedeutung in politischer, tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung zukommt, zuvor die Bewilligung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz ein." Aber was bedeutet das konkret? Wann genau gehen in Wiesbaden die Alarmglocken an? Bei bestimmten Ländern? Bei bestimmten, wiederkehrenden Paragrafen und Tatvorwürfen? Ist das BKA personell überhaupt ausreichend für die steigende Zahl an Fällen ausgestattet? Bei den allein 2017 neu gestellten 13.048 Fahndungsersuchen wären das etwa 50 zu prüfende Fälle pro Werktag.

Schwierige Fragen für das traditionell verschwiegene BKA. Auskunft zu Mitarbeitern und Fallzahlen gibt man grundsätzlich nicht. Heese windet sich: "Für unsere Bewertung sind nach der gesetzlichen Vorgabe entscheidend, wie wahrscheinlich die Auslieferung ist und wie die Bewilligungsentscheidung durch das Auswärtige Amt und das Bundesamt für Justiz lautet", sagt er. Und: "Die Prüfintensität variiert. Wir unterscheiden, ob das Gesuch aus einem Rechtsstaat stammt oder aus Staaten, die über geringe rechtsstaatliche Strukturen verfügen. Nichtsdestotrotz wird im Bundeskriminalamt jeder Einzelfall geprüft." Die Einzelfallprüfung sei aber tatsächlich teils sehr komplex und oft schwierig. Die Aktenlage sei oft bescheiden, weil oft erst im Auslieferungsverfahren der Gerichte alle notwendigen Dokumente aus den Anklage erhebenden Ländern vorlägen. Aber ein strukturelles Problem? Kann Heese nicht erkennen. Dabei sind die Probleme deutlich sichtbar, man kann sie mit einer einfachen Google-Suche finden. Sechs Suchworte genügen: "ahmad mansour bmi frag den staat" - es ist direkt der erste Treffer.

Im November und Dezember 2015 erwirkten mehrere Anfragen auf der Transparenz-Plattform fragdenstaat.de, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, das Bundesministerium des Inneren und das Auswärtige Amt ihren fast vollständigen internen Schriftverkehr zum Fall Ahmed Mansour offenlegen mussten, ein Erfolg des Informationsfreiheitsgesetzes und hartnäckiger Journalisten.

Die veröffentlichten Dokumente, eine Vielzahl interner E-Mails, Vermerke und Einschätzungen, sind eine Mischung aus dem, was man nach einem Besuch auf dem Bürgeramt von der deutschen Bürokratie erwartet - und der Coen-Brüder-Klamotte "Burn After Reading". Nur dass es sich um keine Satire handelte. Sondern um behördendeutsche Wirklichkeit. Und um Entscheidungen über ein Leben in Freiheit oder ein Leben im Gefängnis.

Immer wieder stellen Abgeordnete kritische Fragen

Es lässt sich da also nachlesen, wie am 2. Oktober 2014 ein Fahndungs- und Festnahmeersuchen beim BKA eintrifft - das aber schon 18 Tage später von Interpol selbst wieder zurückgerufen wird. Es lässt sich nachlesen, wie das BKA trotz mehrfacher Hinweise aus der Interpol-Zentrale in Lyon, es handle sich um einen Missbrauch, die Fahndung in Deutschland aufrechterhält. Wie ägyptische Diplomaten versuchen, Druck auf das Auswärtige Amt auszuüben. Und wie niemand die Verantwortung für Mansour und seinen Fall übernehmen will.

Bundeskriminalamt ZD 11
Kriminaldauerdienst
Betreff: Festnahme des ägyptischen Staatsangehörigen Mansour, Ahmed, geb. am 16.07.1962
Folgender Sachstand liegt dem Lagezentrum aktuell (mündlich) vor: Person wird aufgrund des Haftbefehls in Gewahrsam genommen und am morgigen Tage einem Ermittlungsrichter des Landes Berlin vorgeführt. Dieser wird die Identität des Festgenommenen final klären und die Person aller Voraussicht nach in Auslieferungshaft nehmen. Vorgangsbearbeitung obliegt somit dem BfJ.
Hintergrunderkenntnis: Eigene Recherchen ergaben, dass es sich bei der festgenommenen Person um einen äußerst bekannten Fernsehmoderator von "AI-Jazeera" handelt. Er sei in der gesamten Arabischen Welt bekannt.

Das Problem ist bekannt, auch im politischen Berlin. In den letzten Jahren stellten immer wieder Abgeordnete Kleine Anfragen im Bundestag zu Fällen oder zu strukturellen Problemen zwischen Interpol, BKA und Bundesregierung. Im September reichte der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko eine Kleine Anfrage zur "Nutzung von Interpol-Fahndungen zur politischen Verfolgung" ein (Drucksache 19/4365). Im Dezember dann stellte der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle eine Kleine Anfrage zum "Missbrauch von Interpol durch autoritäre Staaten" (Drucksache 19/6555). Beide Anfragen zeigten mit einer Reihe sehr konkreter Fragen im Grunde sämtliche Probleme auf, die sich in den vergangenen Jahren offenbart hatten:

"Wie wurde mit diesen Ersuchen verfahren, und wo wurden diese bei der Bundesregierung geprüft?"

"In welchen formellen und materiellen Umfang überprüft das Bundeskriminalamt die mittels eine "Red Notice" übermittelten Daten vor deren Übernahme in das Inpol-System?“

"Welche Rechtsschutzmöglichkeiten haben Betroffene gegen in das deutsche Inpol-System übernommenen Ausschreibungen, die gegen die Datenverarbeitungsregeln von Interpol verstoßen?"

Gruselkabinett der Gleichgültigkeit

Die Antworten der Bundesregierung und die internen Dokumente des Auswärtigen Amtes und des BKA lesen sich wie Berichte aus einem Gruselkabinett der Gleichgültigkeit: Statt konkret zu klären, wie es zum Missbrauch kommen konnte und wie solche Fälle in Zukunft verhindert werden könnten, sagt die Bundesregierung, das BKA prüfe doch nach dem BKA-Gesetz. Eine Plattitüde, alles andere wäre nämlich illegal. Die häufigsten Sätze in den Antworten aber lauten: Die Bundesregierung führt hierzu keine Statistik. Die Entwicklung der Fallzahlen wird statistisch nicht erfasst. Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. Das bedeutet: Letztlich hängt es maßgeblich vom Verteidiger ab, ob man vor dem Oberlandesgericht zur Auslieferung freigegeben wird oder nicht. Und, manchmal, auch von Glück und Zufall. Wie bei Arthur Lezghintsev.

Über Wochen recherchiert sein Anwalt Hendrik Pekárek den Anschuldigungen gegen Lezghintsev hinterher, besorgt die russischen Beschlüsse aus der ersten und zweiten Instanz und versucht derweil mit seinem Kollegen Kai Peters, das Auswärtige Amt und das Bundesamt für Justiz zu überzeugen, dass es im Fall Lezghintsev nicht um Betrug geht. Sondern um Politik.

Dann, nach Wochen in denen Arthur Lezghintsev auf Ersuchen der Russischen Föderation in der JVA Moabit gefangen gehalten wird, kommt Mitte Oktober das erlösende Schreiben: Die Behörden haben entschieden, der Auslieferung von Lezghintsev in keinem Falle zuzustimmen. Das Auswärtige Amt, das Bundesamt für Justiz, alle haben plötzlich doch Zweifel, ob der russische Unternehmer, der im Parlament von Dagestan saß und gemeinsam mit Alexei Nawalny und Garri Kasparow die Opposition in Russland finanziell unterstützt hat, versucht hat, die von Putin-Getreuen geleitete Rosselkhozbank im großen Stil zu betrügen. Es sei nicht davon auszugehen, dass Lezghintsev in Russland ein fairer Prozess erwarte.

50 maskierte Männer stürmen das Haus seiner Eltern

Für Lezghintsev ist es ein Sieg, aber nur einer von vielen, die er noch erringen muss. Vor wenigen Wochen, erzählt er, haben bewaffnete Einheiten das Haus seiner Eltern gestürmt, 50 maskierte Männer in den frühen Morgenstunden - obwohl die russischen Sicherheitsbehörden wissen, dass er in Deutschland ist.

Für die erlittene Haft wird ihn der deutsche Staat nicht entschädigen, für die angefallenen Anwaltskosten auch nicht. Das Verfahren in Russland gegen ihn läuft weiter, es ist fraglich, was Lezghintsevs russischer Anwalt noch für ihn ausrichten kann. Auch die Diffusion bei Interpol ist noch aktiv. In Deutschland ist Lezghintsev frei, aber wirklich nur hier. Im Grunde ist Deutschland ein großes, bequemes Gefängnis geworden. Schon in Polen, Dänemark oder Österreich wird weiterhin nach Lezghintsev gefahndet. Das ist der nächste Schritt: Hendrik Pekárek wird sich auch an Interpol wenden, wird wieder erklären, warum der Vorwurf gegen seinen Mandanten nicht zu halten sei und warum auch die Diffusion gelöscht werden müsse.

Ein paar Tage später endet Pekáreks nächstes Verfahren, diesmal vor dem Oberlandesgericht Brandenburg. Ein ähnlicher Fall, wieder verlangt die Russische Föderation die Auslieferung eines Unternehmers. Wieder ist der deutschen Justiz die Beweislage unbekannt. Aber das Gericht entscheidet: Der Beschuldigte darf ausgeliefert werden. Die Begründung: Die Zusicherungen der Russischen Föderation hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit der Gerichtsprozesse haben sich stets als belastbar erwiesen.

* * *

Glossar

1 - Arthur Lezghintsev, 1970 in Achty im Süden der russischen Repubik Dagestan geboren, ist ethnisch Lesgier und Muslim. Lezghintsev erwarb in den 90ern eine Sonnenblumenölfabrik, war Abgeordneter des dagestanischen Parlaments und  finanzierte die Opposition um Alexei Nawalny und Garri Kasparow. Seit März 2018 war Lezghintsev nicht mehr in seiner Heimat. Sein Name wurde  aus Sicherheitsgründen geändert, ist der Redaktion aber bekannt. Hartmut Schröder übersetzte das Gespräch in der Kanzlei von Lezghintsevs Anwalt.

2- Interpol ist keine internationale Polizeibehörde mit eigenem Personal. Es gibt zwar ein zentrales Interpol-Büro in Lyon und ein weiteres in Singapur, aber im Grunde ist Interpol eine Art UN der Polizeibehörden. Ein Austauschgremium, das davon lebt, dass möglichst viele mitwirken, auch wenn die Rechtssysteme und Werte sehr unterschiedlich sind. Derzeit sind das 194 Staaten weltweit.

3 - Dagestan Die nordkaukasische Republik Dagestan am Kaspischen Meer ist Teil der Russischen Föderation. Wie im Nachbarland Aserbaidschan und im benachbarten Tschetschenien ist ein Großteil der Bevölkerung muslimisch. Die rund drei Millionen Einwohner Dagestans gehören dabei zu einer Vielzahl verschiedener ethnischer Gruppen, unter anderem Awaren, Darginern, Lesgiern, Laken und Tabassaranen.

4 - Rosselkhozbank Die staatliche Russische  Landwirtschaftsbank wurde 2000 auf Anordnung des russischen Präsidenten  Putin gegründet, um die Landwirtschaft und Agrarindustrie Russlands zu  fördern. Den Aufsichtsrat der Bank leitet der russische  Landwirtschaftsminister Dmitri Patruschew, der Sohn des ehemaligen  Leiters des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB und heutigen Sekretärs  des Sicherheitsrats der Russischen Föderation.

5 - Hendrik Pekárek, 1983 in  Berlin geboren, ist Rechtsanwalt in der Berliner Strafrechtsboutique  Ignor & Partner. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit liegen im Wirtschaftsstrafrecht, IT-Strafrecht sowie im trans- und  internationalen Strafrecht. Sein gemeinsam mit Kilian Wegner  veröffentlichter Essay "'Mythos Interpol' und sein Missbrauch durch  autoritäre Regime findet man auf verfassungsblog.de.

6 - Diffusion Interpol arbeitet mit einem Farbcode, um unterschiedliche Informationsersuche zu markieren: Blauecken bitten um weitere Informationen zu speziellen Ermittlungen, Schwarzecken kennzeichnen Leichen, Rotecken erbitten die Lokalisierung und Verhaftung einer gesuchten Person. Diffusionen sind  rangniedriger, eine Art Alarm mit der Bitte um Kooperation - und werden  daher auch weniger streng von Interpol kontrolliert.

7 - NZB Alle an Interpol teilnehmenden Staaten unterhalten ein Nationales Zentralbüro, das den Austausch mit Interpol übernimmt und  auch die Fahndungsersuche ins jeweilige Polizeisystem einbringt. In  Deutschland übernehmen diese Funktion die Fachabteilungen des  Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. Die Personenfahndungen werden in einem  spezifischen Referat bearbeitet, im Referat ZI 33  "Interpol-Personenfahndung".

8 - Andrej Hunko, MdB Die Linke: "Wir weisen seit Jahren auf  diesen Missstand hin, mehrere unserer Kleinen Anfragen haben Verstöße offengelegt. Wir reden hier nicht nur von deutschen Staatsangehörigen,  die im Ausland wegen politisch motivierten Fahndungen verhaftet werden. Deutschland beteiligt sich an den willkürlichen Verhaftungen."

9 - Konstantin Kuhle,  MdB FDP: "Bei der Überprüfung von über Interpol übermittelten  Auslieferungsersuchen bestehen große Zweifel, ob das Verfahren gegen Missbrauch durch autoritäre Staaten immun ist. Wenn diese die Auslieferung etwa von Regimekritikern begehren, kann diese Lücke im  System gefährliche Folgen für die Betroffenen haben." 

Daniel Erk

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