Party ohne Worte: Wie Gehörlose in Berlin feiern gehen
Bei lauter Musik haben Gehörlose einen Kommunikationsvorteil. Das "Kumpelnest 3000" in Berlin-Tiergarten ist ihr Treffpunkt. Unser Autor hat mit Ihnen gefeiert - und die Sprache der Nacht gelernt.
Unterhalten kann sich hier irgendwann keiner mehr. Spätestens ab Mitternacht schwillt im Kumpelnest 3000, dem legendären Absturz-Club in der Lützowstraße, die Geräuschkulisse zum ohrenbetäubenden Dröhnen an, zusammengesetzt aus Partyschlagern, Tanzflächengejohle, gebrüllten Bestellungen und brechendem Glas. Verständigungsversuche laufen ins Leere, verhallen ungehört im Ohr des Nebenmanns, enden mit ratlosem Schulterzucken. Es sieht behindert aus.
Gebärdensprache müsste man können. Wie jene acht Gäste, die im Kumpelnest jetzt als Einzige noch in der Lage sind, mühelos miteinander zu kommunizieren. Sie müssen dazu nicht einmal nebeneinander stehen, mit ihren Gesten können sie sich auch vom einen Ende der Tanzfläche zum anderen verständigen, ohne jede Anstrengung. Es sieht beneidenswert aus.
An der Seite von Karl Lagerfeld
Die Grenzen dessen, was normal ist, waren im Kumpelnest immer fließend, seit 1987 geben sich in dem winzigen Laden Stars und Stinos, Tussen und Transen, Bodenständige und Borderliner die Klinke in die Hand. Und Gehörlose. Kleinere Gruppen von Gebärdensprachlern sieht man hier regelmäßig feiern, an manchen Abenden sind auch mal zwei bis drei Dutzend von ihnen da.
Fragt man Marian, 35, woran das liegt, dann deutet er auf ein Foto, das schräg links über der Tanzfläche hängt. Auf dem Bild sitzt – an der Seite von Karl Lagerfeld – eine flamboyant gekleidete Frau. Beziehungsweise ein flamboyant gekleideter Mann, der wie eine Frau aussieht. Es ist Gunter Trube, der hier Barkeeper war, bis zu seinem Tod im Jahr 2008.
Gehörlos war Trube auch, und Schauspieler und Crossdresser und Gebärdenpoet und noch so einiges andere. Vor allem aber war Gunter Trube derjenige, der die Gehörlosen ins Kumpelnest holte. Der sie ermunterte, stolz zu sein, auf sich selbst und auf ihre Sprache, die Trube am Tresen auch den Hörenden beibrachte – wer bei ihm bestellen wollte, musste es mit Gesten tun.
Erste Lektion: „Kumpelnest 3000“. Zeige- und Mittelfinger abspreizen, Daumen dazwischenlegen, das ist der Buchstabe K. Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger die Zahl drei formen, dann in dieser Fingerhaltung die Hand nach rechts wegziehen, das bedeutet Tausend. Ergebnis: K-Drei-Tausend.
Serdar, 36, der wie die anderen Gebärdensprachler hier zu Trubes Bekannten gehörte, zeigt auf ein gerahmtes Harlekin-Gemälde, das dicht neben dem Fenster hängt. „Immer wenn Gunter an der Bar stand, kippte er das Bild schief. Wer draußen im Auto vorbeifuhr, musste nur einen Blick durchs Fenster werfen, um zu wissen: Gunter ist da.“
Anders als seine Freunde ist Serdar nicht gehörlos, sondern schwerhörig. Die Gebärdensprache beherrscht er trotzdem, er lernte sie als Kind, von einem gehörlosen Freund aus der Nachbarschaft. Seitdem lebt Serdar sozusagen in zwei Welten, er ist fließend bilingual. Was seine Freunde in Gesten erzählen, übersetzt er in Worte, was man in Worten an sie heranträgt, drückt er in Gebärden aus.
Marcus, 36, ist Serdars Lebenspartner. Geboren wurde er in Heiligensee, gehörlos, als Kind gehörloser Eltern. Der Familie gehörte ein Ladenlokal, in dem Marcus’ Urgroßeltern einst eine Wirtschaft betrieben hatten, im Familienalbum gab es Fotos davon. Marcus, der die Bilder kannte, träumte von klein auf davon, selbstständig zu werden, mit einem eigenen Geschäft, im Ladenlokal der Familie. Das wird nichts, signalisierten ihm die Gesten der Eltern, ein Gehörloser kann nicht selbstständig sein, wie soll das gehen?
"Berlin" in Gebärdensprache ist leicht zu lernen
Es ging. Seit vier Jahren hat Marcus jetzt seinen eigenen Blumen- und Dekorationsladen. „Was wünschst Du Dir?“, schreibt er auf einen Zettel, wenn Hörende das Geschäft betreten. Die Hörenden stutzen dann erst, aber wenn sie am Ende den Laden verlassen, haben sie ihre Wunschblumen im Arm und ein Lächeln auf den Lippen. Körpersprache verbinde, erklärt Marcus, weil sie körperliche Nähe erzeuge und damit Intimität. Bevor er das weiter ausführen kann, mischt sich Lola Promilla ins Gespräch ein, Burlesque-Tänzerin und Kumpelnest-Ikone, nicht gehörlos, aber der Gebärdensprache mächtig: „Schreib unbedingt, dass Marcus die schönsten Weihnachtskränze der ganzen Stadt macht!“
Nächste Lektion: „Berlin“. Eine drehende Handbewegung am rechten Hinterkopf. Das Ohr des Berliner Bären.
Katrin, 42, gehörlos von Geburt an, wuchs in Ost-Berlin auf. Kurz nach dem Mauerfall nahm ein Bekannter sie mit ins Kumpelnest. Als Katrin von diesem ersten Besuch erzählt, macht sie mit beiden Armen eine weit ausladende Befreiungsgeste – sie habe, erklärt sie, nicht ungerne in der DDR gelebt, aber einen Ort wie das Kumpelnest habe es dort einfach nicht gegeben. Katrin ist Zahntechnikerin, sie arbeitet heute in einem Labor, das Implantate herstellt. Ihre Gehörlosigkeit, sagt sie, sei dort im Grunde nie ein Problem gewesen. Nur einmal habe der Chef zu ihr gesagt: Katrin, wenn du hören könntest, wärst du hier die Leiterin.
Sonja, 37, war mit 15 zum ersten Mal im Kumpelnest. Seitdem hat sie viel ausprobiert: Schneiderin in der Staatsoper, Barfrau, Putzhilfe, auch gemodelt hat sie eine Weile, sie verdiente gutes Geld, bevor ihr das Posieren zu langweilig wurde. Ihre Freundin Nina, 36, ist gelernte Buchbinderin, kam nach der Lehre aber nicht in den Beruf, weil kein Hörender sie einstellen wollte. Nina arbeitet seitdem im ambulanten Pflegedienst. Für Gehörlose, sagen beide Freundinnen, sei es nicht immer leicht, beruflich Fuß zu fassen, weil Hörende oft Barrieren schaffen, wo eigentlich gar keine seien.
„Je weiter man nach Norden kommt, desto schwieriger wird es für Gehörlose“
Serdar wird später die Geschichte erzählen, wie Sonja und Nina einmal Netzstrumpfhosen kaufen wollten, für den Urlaub. In einem Berliner Kaufhaus zeichneten sie mit den Fingern Rhombenmuster auf ihre Beine, erfolglos, die Verkäuferin zuckte nur genervt mit den Schultern. Am nächsten Tag, im Urlaub, versuchten die beiden es noch einmal in einem italienischen Kaufhaus. Die Verkäuferin nickte sofort und schob fragend ihre Finger ineinander: enge oder weite Maschen?
„Je weiter man nach Norden kommt, desto schwieriger wird es für Gehörlose“, sagt Serdar, „weil die Bereitschaft zur Empathie nachlässt.“
Nächste Lektion: „Deutschland“. Die Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger an die Stirn legen. Preußische Pickelhaube.
Rimus, 29, ist zum ersten Mal im Kumpelnest. Der Laden gefällt ihm, auch wenn er sonst eher der Berghain-Typ ist. Er tanzt gerne – die Vibrationen der Bässe verraten ihm den Takt, die Bewegungen der Mittänzer die Dynamik der Musik.
Rimus kommt aus der Schweiz, wo es vier verschiedene Varianten der Gebärdensprache gibt: Französisch, Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch, dazu ein paar Dialekte. Die gibt es auch in Deutschland. Berliner und Hamburger verwenden etwa unterschiedliche Gesten für das Wort „Wasser“.
Als „Taubstumme“ wollen Gehörlose in keiner Sprache bezeichnet werden. „Stumm“ nicht, weil es historisch gleichbedeutend mit „dumm“ verwendet wurde (genau wie das englische „dumb“), „taub“ nicht, weil es auch heute als Beleidigung benutzt wird („Sag mal, bist du taub?“).
Letzte Lektion: Namen. Jeder Gehörlose hat einen Gebärdennamen, den sich seine Freunde für ihn ausdenken. Wer über Nina spricht, zeichnet mit den Fingern ihre langen Wimpern nach. Wer Rimus meint, malt ein Kreuz auf seinen Hals, an der Stelle, wo Rimus tätowiert ist. Wer den Finger dreiecksförmig an sein Ohr legt, spricht von Serdar, weil der beim Fasching einmal spitze Spock-Ohren trug. Wer von Katrin redet, lässt die Hand in Wellen über den Hinterkopf gleiten, ihrer schönen Locken wegen.
Das Beste am Gehörlossein, sagt Marcus kurz vor dem Nachhausegehen, sei übrigens, dass er morgens ausschlafen könne, ohne von irgendeinem Geräusch der Welt geweckt zu werden.
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