Susi will leben: Wie eine Berliner Familie die NS-Zeit im Versteck überstand
Eine begehbare Graphic Novel in der Villa Oppenheim in Charlottenburg erzählt die Geschichte von Susi und ihren Eltern, die als verfolgte Juden untertauchten.
Wie lässt sich so viel Glück, so viel unfassbare Freude in Worte fassen? Für Susi ist das keinen Gedanken wert. Die Achtjährige rennt hinaus, wirft sich „ins knisternde Weiß des Schnees... Dann atmete sie Glück, zehn Sekunden lang.“ So steht es in großen Buchstaben an der Wand eines Ausstellungsraumes in der Villa Oppenheim geschrieben. Gleich daneben sieht man das Kind, ausdrucksstark gezeichnet, wie es mit dem Rücken zum Boden die Arme spreizt und Engelsflügel in den Schnee malt.
Noch sind Susi und ihre Eltern Steffy und Ludwig Cohn am klirrend kalten 6. Februar 1944 zwar nicht gerettet, noch ist die Hoffnung ihre stärkste Kraft. Aber immerhin: Knapp eineinhalb Jahre hat es die kleine Familie bereits geschafft, seit Oktober 1942 in Berlin im Verborgenen zu überleben – als Juden verfolgt, versteckt bei wechselnden Helfern, jeder getrennt vom anderen. Nun sind sie endlich wieder zusammen. Die drei sind der Gestapo in Berlin entkommen, sie sind mit illegalen Papieren im Zug zur Ostsee gereist und gerade angekommen. Dort können sie sich in einem einsamen Haus am Meer noch besser verstecken.
Im „Museum Charlottenburg-Wilmersdorf“ in der Villa Oppenheim wird nun diese wahre Geschichte von Susi in einer Ausstellung erzählt – speziell für jüngere Menschen, aber genauso packend auch für ältere Besucher.
Das Mädchen und seine Eltern überleben bis zum Kriegsende an der Ostsee. Dank eines Netzwerkes von hilfreichen Freunden – aber auch von völlig Fremden – können sie sich als arische Bombengeschädigte ausweisen. Man hat ihnen einen sogenannten Flüchtlingsschein zugespielt. Das Papier erlaubt es ihnen, die Reichshauptstadt zu verlassen.
Nach ihrer Rettung studiert Susi in Berlin Jura, sie emigriert nach New York, heiratet, eröffnet ein Schokoladengeschäft, lebt ihre teils verlorene Kindheit nach – und stirbt 2014 mit 78 Jahren.
Ausgangspunkt der Ausstellung ist ein goldener Stolperstein am Platz des früheren, im Bombenhagel zerstörten Hauses am Nikolsburger Platz 4 in Wilmersdorf. Einst wohnte dort Susis Großmutter Gertrud Cohn. 1942 wird sie deportiert und ermordet. Heute befindet sich an der Stelle des Hauses ein Spielplatz.
Hinzu kam 2016 die Graphic-Novel „Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne“, ein im Comic-Stil illustrierter Bilderroman – berührend geschrieben und in zarten Beige- und Brauntönen gezeichnet von der Berliner Lehrerin Birgitta Behr. Sie hat die ganze Geschichte, die sich hinter dem Stolperstein verbirgt, akribisch recherchiert und erlebbar gemacht. Susis Nachfahren halfen ihr dabei. Birgitta Behr unterrichtet an der Cecilien-Grundschule am Nikolsburger Platz. Hier schließt sich der Kreis. Schüler und Lehrer der Cecilien-Schule haben die Patenschaft für Gertrud Cohns Stolperstein übernommen.
Es geht auch um Solidarität, Freundschaft und Anstand
Der Erfolg des Buches brachte Birgitta Behr auf die Idee, dessen Bildsprache in einer gleichnamigen Ausstellung zu erweitern: Gelungen ist ihr ein museumspädagogisch spannendes Experiment, sie schuf eine begehbare Graphic Novel in der Villa Oppenheim. Man spaziert bei diesem Rundgang durch eine Reihe kleiner Zimmer, es ist die fiktive Wohnung am Nikolsburger Platz von Susis Großmutter, deren Abschied für immer im Sommer 1942 die Familie tief erschütterte. Aber das Haus Nr. 4 gewinnt nun an Leben, es erzählt zusammen mit Susi im Lauf der Räume die langsame, perfide Steigerung des rassistischen Terrors, aber auch von Solidarität, Freundschaft Mut, Anstand und Toleranz.
An den Wänden hängen Originalcomics des Buches mit Sprechblasen und Texten, alles stark vergrößert. In den Räumen anschauliche Interieurs: Koffer, ein siebenarmiger Menoraleuchter, das Nähschränkchen, Briefe und vielerlei andere von Susis Nachfahren überlassene Familien-Objekte und Dokumente. Fragen nach dem historischen Hintergrund und Fakten werden leicht verständlich erklärt.
Gleich am Eingang grüßt Susi, lebensgroß an der Wand. „Das ist meine Geschichte“, sagt sie und lädt zum Rundgang ein. Im ersten Raum steht links ein Modell des Hauses Nr. 4, es beginnt zu reden, eine dunkle Stimme raunt: „Ich bin nicht mehr, ich bin Vergangenheit. Geh die Stufen hinauf! Du wirst alles finden, was im Verborgenen liegt.“ Im Zimmer Nummer 2 bricht die Weltwirtschaftskrise aus, machen die Nazis Karriere, man erlebt die Pogromnacht, es werden die Zweifel der damaligen jüdischen Menschen klar, die Hoffnung, dass alles vielleicht nur ein vorübergehender Albtraum ist.
Das Hämmern einer Schreibmaschine kommt aus dem Off, die schwarze, historische „Continental“ steht in einer Nische. Darüber zwei Sätze: „Ich hörte die Schreibmaschinen deutscher Behörden, wie sie die Unmenschlichkeit in die Akten transportierten. Von da aus wanderten sie weiter in das Land, in die Häuser, in die Menschen.“ Das illustriert ein Originalbrief an Susis Vater. Es ist die Kündigung, er darf als jüdischer Lehrer nicht mehr im Schuldienst arbeiten.
"Niemand hat das Recht uns zu vertreiben", schluchzt Susi
Ein anderes Dokument zeigt die zerbrochene Hoffnung der Großmutter. Es ist ein Einreisevisum von Kuba, Gertrud Cohn war dort als Flüchtling willkommen. Am 31. Oktober 1941 wurde es ihr zugestellt. Sieben Tage zuvor hatten die Nazis ein striktes Ausreiseverbot für Juden erlassen. Inzwischen muss auch Susi den Judenstern tragen, „aber Sterne sind nur schön, wenn sie am Himmel hängen.“ Und dann, ein Jahr später, dreht Ludwig Cohn letztmals den Schlüssel in der Wohnungstür um. „Niemand hat das Recht dazu, uns zu vertreiben“, schluchzt Susi.
Bombennächte, Sirenen, Furcht im Luftschutzbunker, Angst um die Eltern. Ihr Trauma nimmt erst auf dem Weg zur Ostsee langsam ein Ende. Nach dem Krieg ist Susi „kein Ungeziefer, keine Aussortierte mehr“. Die Unbekümmertheit kehrt zurück, die Glückseligkeit.
Diese Ausstellung trifft den Nerv, sie sollte dauerhaft gezeigt werden
In dieser begehbaren Graphic Novel werden die furchtbaren Jahre in Deutschland für alle Sinne erzählt, unvergleichlich nahegehend, aber nicht bedrückend, sondern mit Zuversicht, mit nach vorne gerichtetem Blick und Gespür für die Gefühlswelt von Kindern und Jugendlichen. Das trifft deren Nerv offenbar stärker als manche Dokumentation des Holocaust. Im Gästebuch stehen begeisterte Kommentare von Schülern und Lehrern. „Die beste Ausstellung, die ich jemals gesehen habe“, schreibt ein Junge. Und im letzten Raum steht an der Wand, worum es im Leben tatsächlich geht: „Es geht nicht alleine um das Erinnern, sonder auch darum, eine bessere Welt zu leben. Diese Welt beginnt in Dir.“
Angesichts antisemitischer Tendenzen und verbreiteter Fremdenfeindlichkeit lässt sich der Holocaust jungen Menschen kaum besser vermitteln. Diese Ausstellung sollte auf Tour durch Berlin gehen und danach dauerhaft in der Villa Oppenheim gezeigt werden.
„Susi, die Enkelin von Haus Nr. 4 und die Zeit der versteckten Judensterne“, bis 16. Juni in der Villa Oppenheim, Schloßstraße 55/Otto-Grüneberg-Weg in Charlottenburg, Di.-Fr., 10-17 Uhr; Sa. & So., 11-17 Uhr. Mehr Infos auch zu Führungen für Schulklassen: www.villa-oppenheim-berlin.de, Tel.: 902924106. Die gleichnamige Graphic Novel gibt’s im Museum und Buchhandel (ars edition, 109 Seiten, 15 Euro).