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Alles nochmal, bitte. Ein Jahr später, am 6. Mai 1990, rief die Staatsführung ihre Bürger erneut zu Kommunalwahlen auf.
© picture-alliance/ dpa

Gefälschte DDR-Kommunalwahlen 1989: Wie ein Friedenskreis den Fall des Regimes beschleunigte

Gefälschte Wahlen, mutige Bürger: Am heutigen Dienstag jährt sich die dreiste Fälschung der DDR-Kommunalwahlen zum 30. Mal.

Wenige Kilometer von der Mauer entfernt, saßen zehn DDR-Bürgerrechtler vor dem Fernseher und warteten gespannt auf einen der höchsten Funktionäre des verhassten Regimes. Sie wussten, dass er lügen würde, sie wussten nur nicht, wie dreist. Die Wohnung lag in der Albertinenstraße in Weißensee, sie gehörte zum Stephanus-Stift der evangelischen Kirche, die Mieterin war Mitglied des Friedenskreises Weißensee. Jetzt starrten diverse Mitglieder der Gruppe auf den Bildschirm, es war Sonntag, der 7. Mai 1989.

Die Spätnachrichten des DDR-Fernsehens liefen, ein Mann mit großem Gebiss, mittelgrauen Haaren und mittelblauem Sakko tauchte auf. Egon Krenz, Politbüro-Mitglied und „Vorsitzender der Wahlkommission“, verkündete die Ergebnisse der DDR-Kommunalwahl. „Von den Wahlberechtigten haben 12,2 Millionen für die Einheitsliste der Nationalen Front gestimmt“, schnarrte Krenz. „Das sind 98,95 Prozent.“ Jetzt wussten es die Bürgerrechtler. Die Lüge war extrem dreist.

In Wirklichkeit war die Zahl der Neinstimmen viel höher, das konnten sie sich im Stephanus-Stift leicht ausmalen. Sie mussten ja nur ihre eigenen Ergebnisse, die vom Wahlbezirk Weißensee, auf die ganze Republik hochrechnen. Einen Tag später präsentierte die SED-Parteizeitung „Neues Deutschland“ die amtlichen Zahlen für Weißensee. 42 007 gültige Stimmen für den Wahlvorschlag, 1011 Nein-Stimmen. Die nächste dreiste Lüge.

Der Coup mit den Beobachtern

In Wirklichkeit gab es in 66 von 67 Wahllokalen von Weißensee gerade mal 25 797 Ja- und 2261 Nein-Stimmen. Der Friedenskreis hatte das genau ermittelt. „Wir hatten jeweils drei Beobachter in alle Wahllokale, mit einer Ausnahme, geschickt“, sagt Mario Schatta. Eine grandiose Leistung. Auch andere Friedenskreise in der DDR hatten Wahlbeobachter abgestellt, aber nahezu flächendeckend wurde nur der Wahlkreis Weißensee überwacht.

30 Jahre später redet Mario Schatta noch immer mit Begeisterung über diesen Coup. Er ist jetzt 56, die Haare sind ergraut, er besitzt seit 2000 eine Praxis als Organisationsberater und Supervisor, wenig erinnert noch an den 26-Jährigen Diakon, der 1989 seit sechs Jahren den Friedenskreis leitete. Aber mit dem ist er Teil der Geschichte. Die DDR war 1989 ohnehin am Zerbröckeln. Die Zahl der Ausreiseanträge schnellte in die Höhe, die Nationale Volksarmee fand nur mit viel Aufwand Zeitsoldaten, längst hatten sich Oppositionsgruppen gebildet, die Kirchen bildeten Anlaufstellen für DDR-kritische Bürger. Doch die Fälschung bei der Kommunalwahl gab dem Widerstand und der Wut der Bevölkerung noch einen besonderen Schub.

Mario Schatta. Der jetzt 56-Jährige hat 1989 die Kommunalwahlen im Bezirk Weißensee flächendeckend kontrolliert.
Mario Schatta. Der jetzt 56-Jährige hat 1989 die Kommunalwahlen im Bezirk Weißensee flächendeckend kontrolliert.
© privat

Auch Schatta war längst Oppositioneller. Mit 18 Jahren trug er das „Schwerter zu Pflugscharen“-Emblem, organisierte später im Friedenskreis „Aktionen zu den Themen Wehrdienst, Totalverweigerung und Friedenspädagogik“ und landete mehrfach im Gefängnis. Im August 1988 traf sich der Friedenskreis, ein Dutzend Männer und Frauen, mal wieder zum Brainstorming. „Wir haben überlegt, was wir 1989 anstellen wollen“, sagt Schatta. 1989? Da stand doch die Kommunalwahl an. Die könnte man doch kontrollieren. „Es war so nach der Art: Wir wollen es mal probieren, ob es gelingt, wissen wir nicht.“

Die Suche nach den Wahllokalen

So eine Kontrolle, das fand der Diakon schnell heraus, „war ja eigentlich total simpel“. Die Zahl der Wahlberechtigten für das jeweilige Lokal wurde in den Wahlräumen veröffentlicht, auch die Zahl der Menschen, die gewählt hatten. Die Differenz ergab die Nichtwähler. Und die Nein- und ungültigen Stimmen konnte man bei der Auszählung notieren. Das Problem war nur: Wo liegen die Wahllokale? Die Gesamtübersicht wurde nicht veröffentlicht. Der einzelne Wähler erhielt nur die ihn betreffende Adresse. Doch laut Gesetz wurde drei Tage vor der Wahl jedes Wahllokal gekennzeichnet. Auf Fahrrädern, zu Fuß und mit zwei Autos klapperten die Mitglieder ganz Weißensee ab und notierten die Adressen.

Natürlich kannte die Stasi diese Aktionen, Schatta und seine Mitstreiter hatten das einkalkuliert. Auch mit einem Spitzel in ihren Reihen rechneten sie. War dann halt so. „Wir wollten nicht diskutieren, wer bei der Stasi ist“, sagt Schatta. „Dann wäre ja das Kalkül der Stasi aufgegangen. Die wollte doch, dass wir uns nur mit der Suche nach dem Spitzel und nicht mehr mit unserer eigenen Arbeit befassen.“

Sie hatten wirklich einen Spitzel. Den IM „Uwe“. Er war bei fast allen Aktionen dabei, er reparierte auch die Druckmaschine, auf der Flugblätter entstanden, die Schatta verteilte. Währenddessen erfuhr die Stasi von „Uwe“ die Aktivitäten der Friedenskreis-Mitglieder. „Er war eine gespaltene Persönlichkeit“, sagt Schatta. „Der steht heute noch zu seiner Arbeit. Mir hat er erzählt, dass er in seinem Leben nur zwei Freunde gehabt habe: mich und seinen Führungsoffizier.“

Offenes Arbeiten gegen das Regime

Aber die Mitarbeit von IM „Uwe“ war oft gar nicht nötig. Der Friedenskreis warb ganz offen bei Plenumsitzungen um freiwillige Wahlbeobachter. Die Ansage war einfach: Wer Interesse hat, soll am 7. Mai in die Wohnung im Stephans-Stift kommen. Es kamen fast 200 Leute. Jeder erhielt die Adresse eines Wahllokals, setzte sich dort mit Stift und Zettel hin und notierte. „Nur in einem Wahllokal“, sagt Schatta, „gab es erst mal ein Wortgefecht.“ Was wollt ihr? Geht wieder! Hier läuft alles normal. „Ansonsten konnten wir auf alle Zettel schauen.“ Nur in einem Wahllokal der Kunsthochschule nicht. Das hatten sie zuvor nicht entdeckt.

Der eigentliche Wahlbetrug, sagt Schatta, habe ja auch gar nicht in den Wahllokalen stattgefunden. Der kam später. „Die Wahllokale haben die Ergebnisse an den Rat des Stadtbezirks übermittelt. Und dort wurden dann falsche Ergebnisse weitergeleitet.“ Die Berliner Stadtbezirke hatten vor der Wahl aus dem Bürgermeisteramt exakt jene Zahlen erhalten, die sie publizieren sollten. Vereinzelt gab es freilich Gegenwehr, zu absurd klangen die Vorgaben. In Hellersdorf diskutierte man über 400 mehr Nein-Stimmen als vorgegeben, in Treptow um 200.

Nachgezählt. Eine Wahlurne in Weißensee wird geleert. Foto: Seeliger/Imago
Nachgezählt. Eine Wahlurne in Weißensee wird geleert. Foto: Seeliger/Imago
© imago/Seeliger

Gegen 19 Uhr trafen sich alle Wahlbeobachter mit ihren Notizen in der Albertinenstraße. Dort addierte ausgerechnet IM „Uwe“ eifrig alle Zahlen aus den Wahllokalen und gab den begeisterten Oppositionellen. „Er verkündete: Ja, jetzt haben wir’s, jetzt können wir den Betrug beweisen“, sagt Schatta. „Das war schon krass.“

Vergeblicher Antrag auf Wahlbetrug

Die geschönten Zahlen waren kaum verkündet, da rannten Schatta und seine Mitstreiter zur Staatsanwaltschaft und stellten Anzeige gegen Unbekannt beziehungsweise gegen Krenz. Vorwurf: Wahlbetrug. Selbstverständlich vergeblich. Denn Stasi-Chef Erich Mielke hatte schon vorher Weisungen an die Justiz erlassen: „Anzeigen sind ohne Kommentar entgegenzunehmen. Nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung ist (....) zu antworten, dass keine Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen.“

Doch Leute wie Schatta ließen sich längst nicht mehr abspeisen. Sie verteilten die wahren Nein-Stimmen an Westkorrespondenten, die damit an die Öffentlichkeit gingen. DDR-Opponenten aus verschiedenen Friedenskreisen beschlossen zudem, an jedem 7. eines Monats auf dem Alexanderplatz zu demonstrieren. Weil die Stasi diese Pläne selbstverständlich erfuhr, lud sie Schatta vor jedem 7. eines Monats vor und warnte ihn vor der Teilnahme an der Demo. Außerdem solle er das Haus nicht verlassen. Also floh Schatta auch mal übers Dach und knatterte mit seinem Motorrad zum Alexanderplatz. Ungefährlich war das nicht. „Einmal wollten die mich frontal rammen.“ Er wich auf den Bürgersteig aus.

Wenn er den Alex erreichte, war trotzdem schnell Schluss. Die Stasi verhaftete ihn und seine Mitstreiter, allerdings nur mit viel Getöse. Die Bürgerrechtler brüllten sich verabredungsgemäß die Seele aus dem Leib. „Wir wollten Öffentlichkeit herstellen“, sagt Schatta. Es waren ja genügend Westkorrespondenten mit ihren Kameraleuten da.

Egon Krenz hatte nach der Wende im DDR-Fernsehen noch etwas zu verkünden: „Anhand der Unterlagen“ könne er „dafür geradestehen“, dass er „auf eine unbedingt korrekte Wahldurchführung gedrungen“ habe.

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