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Michael Mara, langjähriger Tagesspiegel-Redakteur und landespolitischer Korrespondent in Potsdam.
© Thilo Rückeis

50 Jahre Mauerbau: Wie die Stasi mich entführen wollte

Kidnapping war ein politisches Kampfmittel – auch gegen Tagesspiegel-Mitarbeiter. Michael Mara, langjähriger Redakteur und später Korrespondent in Potsdam, war im Visier der Staatssicherheit.

Vor dem Mauerbau, also von 1950 bis 1961, hat das MfS nach Schätzungen 600 bis 1000 Menschen im Westen entführen lassen. Bei den Opfern handelte es sich vor allem um Überläufer aus SED, Volkspolizei, NVA und dem MfS selbst. Zu den bekanntesten Opfern zählen der einstige Gewerkschaftsjournalist und Ost-Berliner SED-Funktionär Heinz Brandt, der 1958 in den Westen geflohen war und kurz vor dem Mauerbau 1961 entführt wurde, sowie der ebenfalls aus der DDR stammende Journalist und Autor Karl-Wilhelm Fricke, der 1955 gekidnappt wurde. Beide haben mehrere Jahre im Zuchthaus gesessen, bevor sie von der Bundesregierung freigekauft werden konnten. Weniger bekannt ist, dass die Stasi auch nach dem Mauerbau Kidnapping noch längere Zeit als politisches Kampfmittel benutzt hat.

In meinem Fall ist die Hartnäckigkeit auffallend, mit der die Hauptabteilung I (Abwehrarbeit in NVA und Grenztruppen) von 1962 bis 1970 versuchte, mich in ihre Gewalt zu bekommen. Wie aus den Akten hervorgeht, lautete der Befehl: „Operative Bearbeitung des Mara mit dem Ziel seiner Inhaftierung“.

Nach dem Mauerbau war ich als Grenzsoldat rekrutiert worden und bald darauf in Uniform und mit Waffe nach Berlin-Wannsee geflüchtet. Nicht die Fahnenflucht an sich war, wie aus den Unterlagen hervorgeht, der Grund für verschiedene Entführungspläne, sondern die Tatsache, dass ich in West-Berlin Vorträge an Schulen über die Grenztruppen und den Ausbau der Mauer hielt, die Ausstellung am Checkpoint Charlie mit aufbaute und als Journalist für den Tagesspiegel Artikel und Analysen über das Grenzsystem publizierte. Für die Stasi waren das „staatsfeindliche Handlungen“.

Einen ersten konkreten Entführungsplan gab es 1963: Da ich öfter den Ausbau der Grenzanlagen an meinem Fluchtort im Südwesten Berlins in Augenschein nahm und darüber unter anderem im Sender SFB berichtete, fasste die Stasi den Plan, mich beim Auftauchen an der Grenze in einen Hinterhalt zu locken und festzunehmen. Ich hatte wohl bemerkt, dass mein Erscheinen an der Grenze jedes Mal hektische Aktivitäten auslöste: Meine ehemaligen Kameraden telefonierten, Offiziere rasten in einem Jeep heran und gaben Befehle, es wurden Fotos von mir und meinem Auto gemacht. Einer meiner früheren Offiziere rief mir einmal zu: „Wir kriegen Dich Verräter noch!“ Als junger Mensch ist man sorglos. Doch ein Redaktionsleiter des SFB warnte mich eindringlich und hielt mich von weiteren Besuchen am Ort meiner Flucht ab.

Die Stasi, die mich ständig überwachte, gab die Entführungspläne nicht auf. 1966 stellte sie in einem Bericht fest, dass das Ziel, mich in die DDR zu bekommen, noch nicht realisiert werden konnte, weil keine Personen festgestellt worden seien, „über die eine zielstrebige Bearbeitung des Mara“ hätte erfolgen können. Mit anderen Worten: Man suchte jemanden, der mich in eine Falle locken sollte.

1967 meldete dann die Bezirksverwaltung Leipzig des MfS stolz nach Berlin, dass sie über den IM „Bettembourg“ verfüge, der „zum Freundeskreis des Mara“ gehöre. Das war zwar übertrieben. Der Stasi-Spitzel hatte mich im Mauermuseum am Checkpoint Charlie angesprochen, sich als Kollege von „Radio Luxemburg“ ausgegeben und immer wieder den Kontakt zu mir gesucht. Er stammte aus der DDR, seine Eltern lebten dort. In einer Einschätzung wird der damals 25-Jährige so beschrieben: zuverlässig, durchschnittlicher Intellekt, naiv, robust.

Der Plan: Mara betrunken machen

Die Hauptabteilung I witterte Morgenluft und ordnete an, den IM als Lockvogel zur „Habhaftwerdung des Mara durch Anwendung spezieller Mittel“ einzusetzen, wie das geplante Kidnapping im Stasi-Deutsch umschrieben wurde. In einem „Sachstandsbericht“ der „Hauptabteilung I Abt. Koordinierung“ vom 21. Februar 1968 wird auf Seite 6 folgendes Entführungsszenario dargestellt: „Mit Hilfe des IM der BV-Leipzig wird Mara an einem bestimmten Ort den Kräften des Referates 1/V zugeführt. Von hier erfolgt die Schleusung des M. in die Hauptstadt der DDR. Mara wird in einer Gaststätte betrunken gemacht durch den IM … und anschließend durch Kräfte des Referates I/V übernommen und mit Pkw geschleust.“ Eine Variante sah vor, mich im Bahnhof Friedrichstraße bei einer Durchfahrt mit der S-Bahn von West nach West (was damals ohne Kontrolle möglich war) festnehmen zu lassen – von als Grenzposten verkleideten Stasi-Trupps. Den Tipp sollte „Bettembourg“ liefern.

Aber diese Variante erschien der Stasi offenbar nicht besonders Erfolg versprechend. So wurde im Laufe des Frühjahrs 1968 der Plan mit preußischer Gründlichkeit konkretisiert, mich in einer Gaststätte betrunken zu machen und dann nach Ost-Berlin zu schaffen. Die größten Probleme bereitete es dem MfS paradoxerweise, eine geeignete Gaststätte in der Nähe meiner damaligen Wohnung in der Helmstedter Straße zu finden. In einem längeren Sachstandsbericht vom 29. März 1968 stellen die von der Stasi entsandten Aufklärer fest: „In dieser Gegend ist es sehr schwierig, eine Gaststätte zu finden, welche allen Ansprüchen gerecht wird.“ Die Entführung in einer Bar im Erdgeschoss meines damaligen Wohnhauses zu inszenieren, erschien der Stasi zu gewagt. Der Kneipier oder Hausbewohner hätten den Vorgang beobachten können. Deshalb sollte die Operation in der Gaststätte „Dortmunder Hansa Fass“ nahe des Prager Platzes stattfinden.

Am 28. Mai kommt die Kidnapping-Abteilung des MfS in einem längeren Sachstandsbericht zu dem Schluss, dass der Entführungsplan „im Moment günstige Voraussetzungen zu seiner Realisierung“ biete. Der Ablauf der Operation wird auf sechs Seiten detailliert festgelegt. In Kurzform: Der Lockvogel ruft mich abends an und bittet mich, auf ein Bier in die Kneipe zu kommen. Er lässt mich „viel erzählen“, animiert mich „zum übermäßigen Alkoholgenuss“, schüttet mir während eines Gangs zur Toilette K.-o.-Tropfen ins Bier. Wenn ich nicht mehr Herr meiner Sinne bin, schleppt er mich zur Tür, wo ihm drei scheinbar zufällig vorbeilaufende junge Männer freundlich zu Hilfe kommen.

In Wirklichkeit handelt es sich um die speziell ausgebildete dreiköpfige Schleusergruppe „Fahnenfluchten“, Leitung der der GME (Geheime Mitarbeiter für Westeinsätze) „Helmut Jacob“. Ein weiterer dreiköpfiger Trupp, „Leitung GME Horst Hohmann“, sichert die ganze Aktion. Beide Trupps wurden auf alle Eventualitäten vorbereitet: Komme es bei der Entführung zu Störungen, werde „die Aktion als eine Prügelei legendiert“, heißt es im Plan. Auch Fahrtroute und Grenzübergang sind festgelegt: keiner der innerstädtischen Übergänge, wo es mehr Beobachter gegeben hätte, sondern Dreilinden.

Die Entführung wurde mehrmals verschoben, weil der IM „Bettembourg“ laut einer Einschätzung vom 6. Juni „nicht zielstrebig um die Herstellung einer Verbindung zu dem M. kämpfte“. Nach einer „intensiven Bearbeitung“ des IM sollte sie schließlich endgültig am Abend des 19. Juni über die Bühne gehen. „Bettembourg“ war genau instruiert. Nach der Aktion soll er in seine West-Berliner Wohnung zurückkehren, aber am nächsten Tag in Ost-Berlin erscheinen, wo die Stasi über seinen weiteren Einsatz im Westen entscheiden wollte.

Die Entführung platzt

Ich kann mich noch genau an seinen Anruf erinnern: Er bettelte förmlich, dass ich ins „Fass“ kommen solle. Natürlich dachte ich nicht im Entferntesten an eine Entführung. Es war eher ein Bauchgefühl, das mich davon abhielt, die Einladung anzunehmen. Eine halbe Stunde später rief er noch mal an und wollte bei mir zu Hause vorbeikommen, weil er nur noch einen Tag in Berlin sei. Der „Plan B“ – doch auch darauf ging ich nicht ein. So platzte meine mit großem Aufwand vorbereitete Entführung wegen eines Bauchgefühls, die Kidnapper-Trupps mussten unverrichteter Dinge nach Ost-Berlin zurückkehren.

Die Stasi machte für die gescheiterte Entführung „Bettembourg“ verantwortlich, weil dieser keinen engeren Kontakt zu mir herstellen konnte. In einem Bericht zieht das MfS die Konsequenz: „Bettembourg wird nicht mehr einbezogen.“ Der Entführungsplan wird aber nicht aufgegeben. Ein Jahr später, am 21. Mai 1969, gesteht die Stasi in einem Abschlussbericht ein: „Die Entführung ist nicht erfolgreich zu realisieren.“

Es hatte sich kein geeigneter Lockvogel gefunden. Ein Kurswechsel zeichnete sich erst Ende 1970 ab: Die „Inhaftierung“ des Mara, der in West-Berlin journalistisch tätig sei, durch „unser Organ“ würde zu viel Staub aufwirbeln und der Politik von Partei und Regierung Schaden zufügen, heißt es in einem Bericht. Die Kidnapping-Pläne waren damit passe.

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