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Küss mich. Anfang der 70er waren andere Brillen modern, die Liebe aber funktionierte so wie heute. Die Aufnahme entstand bei den Weltfestspielen der Jugend in Ost-Berlin 1973.
© picture-alliance/ ZB

So liebt Berlin: Wie die Pille den Sex verändert hat

Seit fünf Jahrzehnten berät Pro Familia zu Sex und Schwangerschaft in Berlin - und hat damit das Leben vieler Menschen verändert.

Die Revolution im Kleinen hat Pro Familia schon früh geübt. Man schrieb das Jahr 1979, da traten kurzerhand 28 Frauen gleichzeitig in den Verein ein und setzten den „konservativen und männlichen Vorstand ab“. Die Taktik hatte Sexualpädagogin Silvia Heyer von den Feministinnen in den USA gelernt.

Heute schmunzeln die Berater schon mal, wenn sie durch die Annalen der bundesweit wohl bekanntesten, nicht konfessionell gebundenen Beratungsstelle zu Familienplanung und selbstbestimmter Sexualität „Pro Familia“ blättern. Exakt 44,80 DM betrugen am 23. Oktober 1964 die Verwaltungskosten für die amtliche Eintragung ins Vereinsregister. Heute, fünf Jahrzehnte danach, gehören Angebote für die Zielgruppe der Männer wie die von Sexualpädagoge Daniel Kunz längst zum Repertoire von Pro Familia. Stets aktiv, leistungsorientiert, rational, immer potent – mit diesen Erwartungen haben auch viele Berliner Probleme. Doch unverändert wichtig sei „politisches Engagement um sexuelle und reproduktive Rechte“, wie Ulrike Busch, Vorsitzende des Landesverbandes Berlin sagt.

Viele fragen um Rat nur am Telefon

Heute finden jährlich in der Schöneberger Kalckreuthstraße 4 „rund 5500 Beratungen für Klientinnen und Klienten aller Altersgruppen statt“, bilanziert die Berliner Geschäftsführerin Birgit de Wall. Nicht jeder traut sich persönlich hin, so führen die Fachleute auch rund 800 Beratungsgespräche am Telefon. Und jährlich landen rund 10 000 E-Mail-Anfragen im Postfach. Somit helfen die Haupt- und Ehrenamtlichen laut Beratungsexpertin Gundel Köbke jährlich etwa 30 000 Ratsuchenden.

Ihre Lebenswelt, ihre Fragen spiegeln die gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Mitte der 60er Jahre wider. 1961 kam die Pille auf den Markt, seit 1964 durfte dafür geworben werden, da gab es viele Fragen. In den 70er Jahren stritten viele Frauen für das Recht auf Abtreibung, erinnern sich Beraterinnen. Angesichts des Engagements auch der Frauenbewegung gegen den Abtreibungsparagrafen 218 „war es nicht leicht, im Rahmen eines Gesetzes zu arbeiten, das man eigentlich ablehnt“, erinnert sich Birgit de Wall in der Jubiläumsbroschüre – nicht ohne hinzuzufügen: „Wir haben selbstverständlich immer gesetzestreu gearbeitet.“ Noch zur Wende seien die Frauen in der Bundesrepublik bei einer Abtreibung abhängig gewesen von der Indikation eines Arztes. „Alle Frauen müssen sich zwar heute immer noch beraten lassen, sie sind aber unabhängig von ärztlicher Entscheidung“, weiß de Wall.

Pannen bei der Verhütung

Zu Zeiten des Mauerfalls diskutierte dann die Berlinerin, Ost, mit der Berlinerin, West, nächtelang am frauenpolitischen Runden Tisch – auch den gab es. Im früheren Ostteil der Stadt entstand das Familienplanungszentrum „Balance“. Heute kommen im Vergleich zu früher mehr Männer mit in die Abtreibungspflichtberatung, „nicht als Beistand, sondern weil sie Verantwortung übernehmen wollen“, weiß Psychotherapeut Andreas Goosen.

Für die Pille danach werden Rezepte ausgestellt

Auch drei Ärztinnen arbeiten bei Pro Familia, sie beraten inzwischen auch viele Patientinnen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus zu Wechseljahresbeschwerden, bei der Krebsfrüherkennung, zu sexuell übertragbaren Krankheiten. Weil die meisten „Verhütungspannen“ auch junger Leute am Wochenende passierten, können die Ärztinnen selbst in einer Sprechstunde am Sonnabend Rezepte für die Pille danach ausstellen. Politisch engagiert sich Pro Familia dafür.

Zudem bieten zwei externe Juristinnen zweimal pro Woche eine Rechtsberatung an. Denn vieles ist zu klären, wenn sich wie zuletzt immer mehr Frauen über Kinderwunsch- und Reproduktionsmedizinthemen wie das Einfrieren eigener Eizellen ohne medizinischen Grund informieren. Immer mehr Schwangere fragen wegen Pränataldiagnostiken nach. Pro Familia berät auch zu „Präimplantationsdiagnostik“, also zu Untersuchungen auf Erbkrankheiten, bevor eine befruchtete Eizelle eingesetzt wird. Dass heute Menschen sexuell selbstbestimmter leben können und auch transgeschlechtliche Menschen „eine gesellschaftliche Öffnung erfahren“, auch das sei dem langfristigen Engagement von Pro Familia zu verdanken, lobten jetzt Paritäter-Chefin Barbara John und Regierungschef Klaus Wowereit.

Es gibt spezielle Beratungen auch für geistig oder körperlich Behinderte, psychologische Paarberatungen, es werden „Pro Youth“-Schulworkshops zu sexuellen Rechten etwa bei Stigmatisierung wegen Homosexualität angeboten. Und viel nachgefragt, heute wie einst, sind Jugendsprechstunden, heute genannt „Juwel“.

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