Auch acht Berliner reden mit: Wie der Bürgerrat über Deutschlands Außenpolitik diskutiert
Ein Bürgerrat soll Empfehlungen für Deutschlands Rolle in der Welt erarbeiten. Die Teilnehmenden sollen den Querschnitt der Bevölkerung widerspiegeln.
Kai Jabri ist 20 Jahre alt, wohnt in Steglitz-Zehlendorf und will bald mit dem Studium anfangen. Der gebürtige Berliner arbeitet derzeit im Einzelhandel – und ist einer von acht Berlinern, die als Mitglied des bundesweiten Bürgerrates über Deutschlands Rolle in der Welt mitdiskutieren werden.
Ab dem 13. Januar beraten insgesamt 160 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger aus dem gesamten Bundesgebiet in zehn Sitzungen über fünf Unterthemen: Frieden und Sicherheit, Wirtschaft und Handel, Europäische Union, nachhaltige Entwicklung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Der Ältestenrat des Bundestages hatte sich im Juli 2020 für einen Bürgerrat zur deutschen Außenpolitik ausgesprochen. Der erste „Bürgerrat Demokratie“, veranstaltet vom Verein „Mehr Demokratie“ hatte 2019 Vorschläge zur Stärkung demokratischer Mitbestimmung vorgelegt und den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) von der Idee überzeugt.
Die Ergebnisse des online tagenden Bürgerrats werden am 19. März den Fraktionen und dem Bundestagspräsidenten übergeben, der auch die Schirmherrschaft übernommen hat, kündigte Claudine Nierth, Bundesvorstandsprecherin von „Mehr Demokratie“ an.
„Die Zufallsauswahl bringt auch Menschen mit an den Tisch, die sich ungefragt kaum einmischen würden“, sagt Claudine Nierth: „Die Teilnehmenden werden so ausgewählt, dass der Bürgerrat den Querschnitt der Bevölkerung widerspiegelt – ein Mini-Deutschland.“
Zufallsstichprobe aus dem Einwohnermelderegister
Auch in Berlin wurden per Zufallsstichprobe 228 Menschen aus dem Einwohnermelderegister gezogen und diese dann gefragt, ob sie am Bürgerrat teilnehmen möchten. In einem zweiten Schritt wurden die Bewerberinnen und Bewerber nach den Kriterien Alter, Geschlecht, Bundesland, Bildungsabschluss, Migrationshintergrund und Wohnortgröße ausgewählt. Übrig bleiben dann die acht Berliner Teilnehmenden.
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Kai Jabri war unter den ausgewählten Personen – und die Aufgabe hat ihn interessiert, erzählt er. „Schließlich geht es um Deutschlands Zukunft“, sagt Jabri. Er sei durchaus an Politik interessiert, mit Parteien wolle er aber nichts zu tun haben. „Parteien sind mir fremd und ich bin auch nicht wählen gegangen“, erzählt er.
Deswegen habe ihn der Ansatz des Bürgerrats beeindruckt. Vor dem Start wird bei ihm zu Hause ein Technik-Test durchgeführt, damit die zehn Online-Beratungen des Bürgerrats vom 13. Januar bis 20. Februar reibungslos laufen. Kai Jabri ist bereits „neugierig, was mich erwartet“. „Ich hoffe, dass die Politik dann die Vorschläge beherzigen wird“, sagt er.
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Auch Thomas Spießer freut sich, dass er ausgewählt wurde, an den Debatten teilzunehmen. „Das Thema ist spannend, und das Konzept ist spannend“, sagt der 39-Jährige. Der Bürgerrat ist für ihn „ein Beitrag zur Demokratie“, der im Falle des Erfolgs „die Politik und die Bürger wieder etwas näher zusammenbringt“.
Vor allem dann, wenn es nicht bei den Empfehlungen bleibe, sondern diese in Gesetze einfließen. Der in Berlin aufgewachsene Spießer hält den Bürgerrat auch für ein geeigneteres Instrument als einen Volksentscheid. Im Bürgerrat werde ernsthaft diskutiert, man setze sich intensiv mit den Argumenten auseinander.
Bei Referenden dagegen, sagt Thomas Spießer auch mit Verweis auf den Brexit, gebe es viel Raum für Demagogie und unqualifizierte Meinungsmache in sozialen Medien. Über Deutschlands Rolle in der Welt zu diskutieren, sei ein „cooles und brisantes Thema“, sagt der Software-Entwickler, der seit März 2020 im Homeoffice arbeitet. „Schließlich ist Deutschland mit Europa und der Welt sehr eng vernetzt und durch seine Exporte abhängig von guten Beziehungen.“
Auch Fachleute werden eingebunden
Damit die Debatten auf hohem Niveau geführt werden können, werden neben den insgesamt 160 gelosten Mitgliedern des Bürgerrats auch Fachleute aus Ministerien, der Zivilgesellschaft und Politik eingebunden, erläutert „Mehr Demokratie“. So sollen die Themen und Fragestellungen eingegrenzt werden, die unterschiedlichen Standpunkte zu Deutschlands internationaler Rolle verdeutlicht und die Fragen der Teilnehmenden beantwortet werden können.
[Informationen zum Bürgerrat unter: deutschlands-rolle.buergerrat.de]
Und was passiert dann? Die Ergebnisse seien „Empfehlungen und keine Forderungen“, sagt Mehr-Demokratie-Vorständlerin Nierth. Sie warnt vor zu hohen Erwartungen. Konkret geplant ist bisher nur, dass die thematisch zuständigen Ministerien und die Ausschüsse des Bundestages sich mit den Ergebnissen befassen und Abgeordnete und Bürgerratsvertreter miteinander reden.
Bürgerräte gab es – mit unterschiedlichen Kompetenzen – bereits in anderen Ländern wie Schottland oder Kanada. In Irland ging es um Geschlechtergerechtigkeit; in Frankreich und England erarbeiteten Bürgerräte im vergangenen Jahr etwa Klimaschutzvorschläge. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte versprochen, die Empfehlungen „ohne Filter“ an das Parlament weiterzuleiten und vor Kurzem erst ein vom Bürgerrat empfohlenes Referendum angekündigt, um den Klimaschutz in der Verfassung zu verankern.
Gerd Nowakowski