Die große Verunsicherung: Wie Berliner Hausärzte mit dem Coronavirus kämpfen
Mit den Patienten kommt täglich zigfach der Coronavirus-Verdacht zu den Hausärzten. Sie stecken in der Zwickmühle zwischen Hilfe und Risiko.
Als Sylvia Grotjohann-Ernst an diesem Dienstagmorgen ihre dritte Patientin an der Tür zum Behandlungszimmer verabschiedet, entgleiten ihr für einen Moment die Gesichtszüge, dann atmet sie tief durch. Die Hausärztin neigt nicht zur Unruhe oder großer Sorge, das können ihre Patienten bestätigen, dafür ist sie viel zu erfahren, aber was sie im Flur zum Wartezimmer ihrer Gemeinschaftspraxis für Allgemeinmedizin sieht, gefällt ihr nicht. Ein junger Mann, großgewachsen, in eine dicke Jacke gehüllt, dahinter dessen Mutter mit besorgter Miene. Die Ärztin sagt leise: „Der gehört zu den beiden ungewöhnlicheren Fällen, die mir in der letzten Woche schon aufgefallen sind.“
Plötzlich denkt sie: Machen die mir die Praxis zu?
Dass der junge Mann jetzt sichtlich krank wieder in der Praxis in Zehlendorf-Mitte steht, nachdem er sieben Tage zuvor grippeähnliche Symptome aufgewiesen hatte, heißt für Sylvia Grotjohann-Ernst nun automatisch: Coronavirus-Verdacht.
Sie bittet Mutter und Sohn, nicht ins Wartezimmer zu gehen, sondern im schmalen Flur vor dem Labor Platz zu nehmen, beide bekommen sofort eine Schutzmaske für Mund und Nase. Gleich werden bei ihnen zwei Abstriche gemacht im Mund- und Nasenraum.
Und Grotjohann-Ernst, das wird sie später in ihrer Pause sagen, erwischt sich dabei, dass sie plötzlich denkt: Was passiert, wenn ich einen Abstrich mache, und der Junge hat Covid-19 und die machen uns dann die Praxis zu!
Seit einigen Tagen ist das Virus auch in Berlin und Brandenburg identifiziert worden und lässt den Pulsschlag der Stadt noch höher und immer höher schlagen, schon mussten Schulen schließen, Veranstaltungen werden abgesagt, in Kliniken und Krankenhäusern, in denen sich lange Schlangen bilden, wird fieberhaft überlegt, wie man Isolierstationen anbauen können; und auch im Supermarkt hier an der Clayallee nur ein paar Schritte entfernt kaufen Menschen die Regale leer, obwohl sie vermutlich nicht den geringsten Verdacht auf irgendetwas haben.
Im ersten Stock der Praxis wiederum steht das Telefon nicht mehr still. Andererseits ist der Warteraum erstaunlich leer. Zu Grotjohann-Ernst und ihrem Kollegen, dem hausärztlichen Internisten Manuel Fassbender, kommen sehr viel Stammpatienten, teilweise auch von weit her, weil die Praxis einen sehr guten Ruf genießt. Und sonst immer sehr gut besucht ist. Fragt man Patienten, sagen sie, dass die Ärzte hier zugewandt und empathisch seien. Es werde einem zugehört.
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Seit Montag ist es ruhiger. Vermutlich, sagen die beiden Frauen am Empfang, „haben die Leute zu viel Angst zu kommen“. Am Telefon wird das eher vage formuliert, eher wollen die Anrufer wissen, welche Impfungen es noch gebe und welche noch sinnvoll seien und ob man denn überhaupt vorbeikommen könne. „Es wird nach Lungenentzündungs- und Grippeimpfung gefragt“, sagt eine Angestellte, die sich selbst „schon auch Sorgen macht“. Ihre Kollegin zeigt auf den Empfangstresen und sagt nur halb im Scherz: „Da kann ja jeder rüberhusten.“
Ein Mann tritt mit ernster Miene und verkrampfter Haltung in Grotjohann-Ernsts Sprechzimmer, schnell platzt aus ihm heraus, was so schwer auf dem Herzen liegt: „Ich fliege am Sonntag nach Südamerika, aber jetzt weiß ich gar nicht, ob ich das machen soll.“
Ihm sei abwechselnd heiß und kalt, auch der Magen mache ihm zu schaffen, er fühle sich, als bekäme er einen Infekt, er spricht das Wort „Coronavirus“ nicht aus.
„Sie machen sich große Sorgen wegen Corona, ist das richtig?“, sagt Grotjohann-Ernst. Der Mann wirkt erleichtert „Ja. Schon allein wegen der Klimaanlage im Flugzeug.“
„Wenn sie sich mit der Entscheidung hierzubleiben besser fühlen, dann rate ich ihnen, das auch zu tun.“
Hast Du das Virus? Keine Antwort...
Als er in Zehlendorf im Supermarkt die leeren Regale gesehen habe, habe er gar keine Lust mehr auf die Reise gehabt, sagt der Mann. Und er habe eine neue Partnerin und die sei sehr erkältet gewesen, eine schwere Bronchitis habe er gedacht, angesteckt von den Kindern. „Ich habe ihr geschrieben und gefragt: Hast du das Virus?“ Aber sie habe nicht geantwortet. Sei eine neue Beziehung. Er wirkt ehrlich empört.
Die Ärztin wird dem Mann Blut abnehmen, ihm in Mund und Rachenraum schauen, die Lunge abhören, dann schreibt sie ihn „zur Sicherheit“ krank, gibt ihm die Nummer der Hotline des Gesundheitsamtes und mahnt ihn eindringlich, aber zugewandt: „Bleiben Sie zu Hause, und wenn es auch bei ihnen schlimmer wird oder sich etwas bei ihrer Freundin ergibt, rufen sie sofort an.“
Der Mann, sagt Grotjohann-Ernst, habe vermutlich nur einen sich anbahnenden Infekt. Ob dieser Infekt eine leichte Erkältung oder dann doch die potenziell schwere Coronavirusgrippe sein würde, genau könne das wiederum niemand vorhersagen, denn 80 Prozent der Coronaviruserkrankungen verlaufen wie eine normale Erkältung.
Der junge Mann ist wieder da - sie hatte gleich ein komisches Gefühl
Selbst das Offensichtliche, das eine Hausärztin wie sie normalerweise sehen und spüren kann, wirkt plötzlich seltsam unklar.
Was ist schon sicher in diesen Tagen, wenn selbst das eigene Bauchgefühl bei so vielen versagt und der Verstand beginnt, sich aus Sorge auszuschalten?
Der junge Mann, der jetzt noch im Labor ist, beschäftigt Grotjohann-Ernst. Hätte sie ihn in der vergangenen Woche gleich testen sollen? Sie hatte damals schon eine Coronavirusinfektion zusätzlich zu anderen Erkrankungsursachen mit in Betracht gezogen.
Sie guckt in den Computer, schaut auf die Seite des Robert-Koch-Instituts, auf die „Orientierungshilfe für Ärztinnen und Ärzte“. An diesem Dienstag ist dieses Informationsblatt seit der Vorwoche nicht aktualisiert, es wird darauf betont, dass Hausärzte nur handeln sollen, wenn der Patient Kontakt zu einem infizierten Menschen hatte oder aus einem der so genannten Risikogebiete komme. Weder das eine noch das andere traf bei der letzten Konsultation auf den jungen Mann zu. Grotjohann-Ernst sagt: „Ich habe mich an diese Vorgabe gehalten.“
Jetzt, eine Woche später, ist sowieso alles anders. Längst gibt es eine steigende Anzahl von Fällen auch in Berlin, nun ist es völlig egal, ob jemand in einer Risikoregion war oder nicht.
Grotjohann-Ernst sagt, sie erinnert sich, dass sie vor wenigen Tagen noch mit ihrem Kollegen zusammensaß und sagte, „Manuel, das Virus ist vermutlich eh schon da, wir wissen es nur nicht.“
Schutzutensilien? Fast alles vergriffen!
Schon beim ersten Fall in Europa hätte man, findet die Ärztin, sofort auch Abstriche machen müssen. Und die Praxen warnen, benachrichtigen und sie vor allem mit Arbeitsschutzmaterial ausstatten sollen. Dann schaut sie wieder in die Richtlinien und seufzt. Eigentlich dürften sie hier gar nichts machen, vor allem keinen Abstrich, denn außer den Gesichtsmasken aus Papier und Handschuhen, die hier genauso knapp werden wie überall, besitzt die Praxis keine weiteren Schutzutensilien.
Einmalschutzkittel, Schutzbrillen müssten organisiert werde. Aber selbst, wenn man das versuchen würde, „wir bekommen nichts“, das hat der Stammhändler der Praxis schon kundgetan. Bei der Lieferung am vergangenen Freitag fehlten die bestellten Gesichtsmasken. Sei alles vergriffen.
Was aber auch fehlt, laut Vorschrift für solche Fälle, ist ein Isolierraum. „Wir haben nur drei Räume“, sagt Grotjohann-Ernst, „wir haben das nicht, wie sollten wir einen solchen Raum einrichten?“ Kaum eine Praxis hat so etwas.
Die mangelnde Ausstattung der Praxen ist ein Streitpunkt zwischen dem Senat und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Auch die KV gibt fast täglich ein Bulletin heraus, da steht zum Beispiel wörtlich zum Thema Schutzkleidung: „Die KV ist der Meinung, dass es nicht Aufgabe der Praxis ist, Schutzkleidung im Falle von Epidemien, wie sie sich derzeit abzeichnet, in notwendiger Stückzahl vorzuhalten.“ Soll heißen: Die Verwaltung ist hier gefordert.
Dann steht da noch ein Satz, der wiederum für Grotjohann-Ernst und ihre Kollegen in allen Hausarztpraxen eine Art Quadratur des Kreises darstellt, weil sie sich ja verpflichtet fühlen und sind, zu helfen, aber, andererseits, nicht wirklich hundertprozentig ausgestattet sein können.
Der zweite Satz lautet: „Die KV Berlin möchte darauf hinweisen, dass es unbedingt erforderlich ist, dass eine Versorgung von Corona-Verdachtsfällen in den Praxen erst dann möglich wird, wenn für Sie und Ihr Praxisteam ausreichend Schutzausrüstung zur Verfügung steht.“
Schon Platon mahnte, Leib und Seele zusammenzudenken
Wie so oft sitzen Ärztinnen und Ärzte zwischen allen Stühlen. Einige Hausarztpraxen in Berlin wollen möglichen Verdachtsfällen den Zugang mit dem Argument mangelnder Schutzausrüstung verwehren. Doch die Menschen, die hierherkommen, die generell in eine Hausarztpraxis kommen, vertrauen ihren Ärzten – denn es sind im Idealfall ihre Vertrauten. Das ist Ehre wir Bürde zugleich. Dieser Verantwortung wollen Sylvia Grotjohann-Ernst und Manuel Fassbender nach bestem Wissen und Gewissen gerecht werden. Jetzt ist es doppelt schwierig.
Seit 2004 ist Sylvia Grotjohann-Ernst niedergelassene Ärztin in Berlin-Zehlendorf, zuvor hat sie unter anderem in London gearbeitet. Sie nennt ihren Teil der Gemeinschaftspraxis „Praxis für ganzheitliche Allgemeinmedizin, Psychosomatik und Naturheilverfahren“.
Auf ihrer Webseite steht ein Zitat von Platon: „Es ist der größte Fehler bei der Behandlung der Krankheiten, dass Leib und Seele allzu sehr voneinander getrennt werden, wobei sie doch nicht getrennt werden können; aber das gerade übersehen die Ärzte, und darum entgehen ihnen so viele Krankheiten; sie sehen nämlich niemals das Ganze…“
Normalerweise, wenn nicht gerade eine Pandemie auf der Welt tobt, hat die Ärztin vor allem ein Grundproblem, das sie etwas umständlicher als Platon ausdrückt: „Der mangelnde Wille in unseren Gesundheitssystem, von der Spezialversorgung in der Primärversorgung wegzukommen.“ Anders ausgedrückt, sagt sie, dass sie sich in ihrem Berufsethos nicht korrumpieren lassen wolle, „nur weil ich auch wirtschaftlich denken muss“.
Kurzum: Das wachsende Problem, seitdem sie sich als Ärztin niedergelassen hat, ist die immer knapper werdende Zeit, die ihr für Patienten bleibt. Eine flächendeckende, hausärztliche Versorgung, jemand, der sich wirklich auskennt mit dem Patienten, findet sie, wäre für alle „ökonomischer und gesünder“ als das Fachärztehopping.
Eine ältere Frau kommt herein. Sie fühlt sich matt und niedergeschlagen. „Kommt und geht“, sagt sie. Alle drei Tage. Mal habe sie auch Kopfweh, dann wieder der Rücken. Viel Gliederschmerzen, manchmal auch Schnupfen, Schluckbeschwerden, bisschen Husten.
Ein Abstrich ist nicht nötig - das beruhigt die Patientin
Grotjohann-Ernst fragt nach, was genau und wann und wie lange. „Mal so, mal so.“ Die Patientin weiß es nicht so genau. Sie ist gegen Grippe geimpft, die Lymphknoten sind beim Abtasten nicht geschwollen, im Rachen ist nichts zu sehen. Die Ärztin erklärt ruhig, was eine Theorie sein könnte, es geht um eine spezielle Art von Rheuma. Auch ihr wird sie Blut abnehmen. Sie guckt der Frau mütterlich in die Augen, dann sagt Grotjohann-Ernst: „Wir machen keinen Abstrich wegen Corona, das ist nicht notwendig.“ Das beruhigt die Frau.
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Der junge Mann und seine Mutter sind nun fertig im Labor, die Schwester, die Mutter und Bruder hergefahren hatte, musste auch noch kommen – und ins Labor. Lange hat Grotjohann-Ernst mit ihnen geredet, ihnen alles erklärt, ihnen klar gesagt, was nun zu tun ist. Dass sie vor allem zu Hause bleiben müssen.
Am nächsten Tag soll das Ergebnis des Tests da sein.
Panik? "Nein. Es nervt nur sehr"
Der junge Mann sagt, dass er eigentlich nirgendwo war, außer viel beim Sport, er spiele Fußball. „Auch auf Partys“, sagt die Mutter. Könne ja sein, dass dort einer aus Norditalien war.
„Haben Sie Panik?“
„Nein“, sagt die Mutter. „Es nervt nur sehr.“
Der Sohn zuckt mit den Achseln: „Normalerweise bin ich ja nie krank. Und dann plötzlich so lange Fieber.“
Er fragt seine Mutter, wieso sie eigentlich auch den Mundschutz trage. Sie grinst gequält: „Weil ich jetzt 14 Tage mit dir zu Hause war.“ Sie war selbst wegen einer Operation krankgeschrieben, jetzt hätte sie wieder zur Arbeit gemusst. Sie wird stattdessen die Chefin anrufen und erklären, warum sie doch noch nicht kommen werde.
Als die beiden aus dem Labor gekommen waren, musste die Arzthelferin noch mehr als sonst desinfizieren – und sagte das auch vernehmbar. Im Wartezimmer haben das auch andere Patienten mitbekommen. Bei einem Paar führte das zu großer Unruhe, die Schwestern mussten sie beruhigen.
In der Pause kommt Manuel Fassbender ins Zimmer seiner Kollegin. Das Paar gehört zu seinen Patienten, er sagt: „Die Verunsicherung ist wirklich groß.“ Dann schaut er Grotjohann-Ernst an, die erwidert: „Bei uns aber auch.“
Sie kann die Leute verstehen, die jetzt hamstern oder wegbleiben oder einfach gar nichts an sich ranlassen. Das seien ja die normalen menschlichen Reaktionen. „Der Ohnmacht etwas entgegensetzen.“
Die Ärzte sagen, ihre Leichtigkeit als Profis sei weg
Die beiden Ärzte wiederum müssen es aushalten, dass sie selbst nicht viel wissen, nicht viel tun können, und doch womöglich in Gefahr geraten.
Manuel Fassbender sagt: „Wenn jetzt einer von uns das Virus hätte, dann würde der andere weiterarbeiten, denn…“
Grotjohann-Ernst unterbricht ihn: „Dann würden die uns die Praxis dicht machen! Oder, Manuel?“
Sie wissen es beide nicht.
Es wäre jedenfalls wirtschaftlich schon schlimm genug, aber wer würde dann ihre Patienten versorgen, die von völlig anderen, oft akut viel dramatischeren Krankheiten betroffen sind? Manuel Fassbender sagt: „Wir müssen jetzt unbedingt schnell regeln, dass die Verdachtsfälle zu anderen Zeiten zu uns kommen, zu Randzeiten.“ Grotjohann-Ernst fragt zurück: "Wir sind jetzt schon so eng getaktet, wie sollen wir das denn machen?“ Beide schweigen. Sie haben gerade, sagen sie, „irgendwie die Leichtigkeit erfahrener Ärzte verloren“.