„Es gibt derzeit keinen Anlass für Alarmismus“: Wie aussagekräftig ist die Berliner Corona-Ampel?
Die Berliner Corona-Ampel dient als Warnsystem: Leuchtet sie Rot, müssen Schutzmaßnahmen getroffen werden. Doch das könnte zu voreilig sein, erklärt ein Arzt.
Es ist verführerisch einfach, sich bei der Beurteilung der Corona-Pandemiesituation in Deutschland auf nur einen Wert zu fokussieren. Derzeit scheint die Politik als Grundlage für ihre Entscheidungen vor allem die steigenden Infektionszahlen zu favorisieren.
Doch die Aussagekraft dieses Wertes wird zunehmend in Frage gestellt. Auch wenn man – wie Berlin für seine Corona-Ampel – mehrere Parameter heranzieht, stellt sich die Frage, ob die aussagekräftigsten Daten genutzt werden.
Der Senat stellt für die Ampel drei Werte dar: Die Sieben-Tage-Inzidenz bezeichnet die Anzahl der Menschen pro 100.000 Einwohner, die in den vergangenen sieben Tagen erstmals positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Der Vier-Tage-Reproduktionswert gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter in den vergangenen vier Tagen rein rechnerisch durchschnittlich angesteckt hat.
Und schließlich zeigt der Wert „Covid-19 ITS-Belegung“, wie groß der Anteil von Intensivbetten der Berliner Krankenhäuser ist, die mit Covid-19-Patienten belegt sind. Derzeit ist diese Quote mit 3,1 Prozent sehr niedrig.
49 Patienten auf Berliner Intensivstationen
Die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen ist seit dem Wochenende stark gestiegen. Nach Angaben der Senatsgesundheitsverwaltung werden dort am Dienstag 49 schwer kranke Covid-19-Patienten behandelt. Das sind zehn mehr als noch am vergangenen Sonntag und die höchste Zahl seit dem 27. Mai, als 56 Patienten auf Intensivstationen versorgt werden mussten.
Doch nur zu schauen, wie viele Covid-19-Patienten auf Intensivstationen behandelt werden, sei als Grundlage für politische Entscheidungen „keine gute Idee“, sagt Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) mit Sitz in Berlin.
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Karagiannidis leitet zudem das Beatmungszentrum der Lungenklinik Köln-Merheim. „Viel wichtiger ist der Auslastungsgrad der Intensivstationen insgesamt und wie viele freie Betten noch zur Verfügung stehen – inklusive des dafür nötigen Fachpersonals.“
Deshalb weise das Intensivregister als verfügbare Kapazitäten lediglich die „betreibbaren freien Betten“ aus. Denn nur so lasse sich einschätzen, ob die Kliniken auf einen plötzlichen Ansturm von schwerkranken Covid-19-Patienten vorbereitet sind.
Sinke diese Zahl auf bundesweit unter zehn Prozent, müsse die Politik gegensteuern und dafür sorgen, dass mehr Kapazitäten geschaffen werden. „Unter fünf Prozent geht der wichtige Puffer zur Neige und damit droht eine Überlastung der Intensivkapazitäten, wenn mehr Patienten schwer an Covid-19 erkranken“, sagte der Intensivmediziner dem Tagesspiegel.
Doch davon sind die Krankenhäuser bundesweit und auch in Berlin derzeit noch weit entfernt. In Berlin waren am Montag laut Intensivregister 17,5 Prozent der Intensivbetten verfügbar. Bundesweit lag die Quote bei 30,9 Prozent.
„Das führt zu falschem Alarmismus“
Die Sieben-Tage-Inzidenz, an der sich deutschlandweit die Politiker orientieren, vor allem aber der Grenzwert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, wird ebenfalls zunehmend kritisiert.
Der Chef des Kassenärzte-Verbandes, Andreas Gassen, sagte am Wochenende der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Wir müssen aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, das führt zu falschem Alarmismus.“
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Am Freitag hatte bereits der Virologe Hendrik Streeck ein Ampelsystem angeregt, das auf dem Zusammenspiel von Infektionszahlen, Anzahl der Tests, stationärer und intensivmedizinischer Belegung basiert. Es müsse darum gehen, mit den vorhandenen Daten „ein intelligenteres und vorausschauendes System zu entwickeln“, schrieb der Professor für Virologie und Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Universität Bonn in einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt“.
Die 7-Tage-Inzidenz und der Reproduktionswert seien wichtig für die Vorwarnzeit, betont auch Christian Karagiannidis. „Daraus lässt sich belastbar vorhersagen, wie sich der Bedarf an Krankenhauskapazitäten entwickeln wird.“ Dabei sollte man sich aber vor allem auf die Gruppe der Infizierten, die über 60 Jahre alt sind, konzentrieren, fordert der Intensivmediziner.
Denn aus den Erfahrungen der ersten Welle wisse man, wie hoch der Anteil an Infizierten der Risikogruppen ist, die wahrscheinlich in einer Klinik behandelt werden müssen.
Zudem kenne man die Latenzzeit, also die Zeit zwischen den ersten Symptomen und dem Zeitpunkt, an dem diese so schwerwiegend werden, dass der Patient in einer Klinik behandelt werden muss. Diese beträgt zwischen acht und zehn Tagen.
„Es gibt derzeit keinen Anlass für Alarmismus“
Bisher zeige der Trend bei den infizierten über 60-Jährigen nur langsam nach oben. „Es gibt also derzeit eigentlich keinen Anlass für Alarmismus“, sagt Karagiannidis. Doch dass es im kommenden Winter zumindest zu regionalen Engpässen kommt, könne man nicht ausschließen, sagt der Intensivmediziner.
„Die Bevölkerung wird sich darauf einstellen müssen, dass Patienten auch auf eine Intensivstation mit freien Betten verlegt werden müssen, die 50 oder 100 Kilometer entfernt ist.“
Die Senatsverwaltung für Gesundheit hält trotz der Kritik an dem bisherigen System fest. Derzeit seien „keine Änderungen oder Ergänzungen an der Corona-Warnampel geplant“, teilte die Verwaltung am Montag auf Anfrage mit.
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