Alltagsgewalt in Berlin: Wie aus dem Nichts
Tausende werden in Berlin jährlich Opfer von Alltagsgewalt. Ihre Fälle gehen nicht in die Statistik ein, bekommen keine Akte, weil niemand Anzeige erstattet, werden nie aufgeklärt. Sieben Betroffene berichten.
Was sich in sein Gedächtnis eingebrannt hat, ist die Stimme des jungen Mädchens. Wenn er die Augen schließt, kann er sie hören. „Laufen Sie weg, laufen Sie schnell weg!“ In seiner Erinnerung klingt sie panisch. Kurz darauf treffen die Fäuste sein Gesicht.
Dreieinhalb Jahre sind seitdem vergangen, und Werner Ellert ist erstmals an den Ort des Geschehens zurückgekehrt, um sich besser erinnern zu können. An einem sonnigen Tag im März läuft er an der schmalen Panke in Wedding entlang, er kneift die Augen zusammen und zeigt schließlich auf einen Kinderspielplatz mit Klettergerüst, dahinter ein Fußball-Käfig, daneben zwei Bänke. Es sitzen Jugendliche darauf. Er sagt: „So muss das damals auch gewesen sein.“
Er steht wie viele andere im Dunkelfeld der täglichen Kriminalität
Werner Ellert ist ruhig und bedacht, aber auch groß und stark. Und seit diesem Tag gehört er zu den Zehntausenden von Menschen, die in Berlin jährlich Opfer von Alltagsgewalt und Alltagskriminalität werden. Die zunehmende Verrohung hat gerade in den letzten Monaten die Stadt aufgeschreckt. Da ist beispielsweise der Fall einer Seniorin, der im vermeintlich so sicheren Dahlem die Handtasche geraubt wird: Sie hält sie fest, fällt hin und wird mit dem Gesicht nach unten vom Täter über den Pflasterstein mitgeschleift – das Gesicht danach eine einzige Wunde. Es sind viele scheinbar unspektakuläre Fälle darunter, wie der eines Mannes in der U-Bahn, der sich einmischt, weil die Musik von Jugendlichen viel zu laut ist, der verprügelt wird, flüchtet, schließlich in ein Krankenhaus muss. „Nur leicht verletzt“, heißt es im Polizeibericht, wo er als Fall nur auftaucht, weil er Anzeige gestellt hat.
Werner Ellerts Fall wiederum steht dafür, dass er offiziell gar keiner ist, weil er nicht eingegangen ist in die Statistik. Ellert steht wie sehr viele andere im Dunkelfeld der täglichen Kriminalität, er ist nicht zur Polizei gegangen, hat keine Anzeige gestellt – hat alleine versucht klarzukommen. Offiziell ist er gar kein Opfer.
Es ist ein Samstag im November, als Werner Ellert gegen 22.30 Uhr auf eine Party zu Freunden in den Wedding fährt. Er will in die Uferhalle, die gleich neben den Ufer-Studios liegt; aber Ellert verläuft sich, als er aus der U-Bahn steigt. Nachdem er seinen Irrtum bemerkt hat, geht er durch das parkähnliche Gelände an der Panke entlang, um die Strecke abzukürzen. Unterm Arm trägt er eine Kiste Rotwein. Er passiert einen Spielplatz, nimmt schemenhaft ein paar Gestalten auf einer Bank wahr. Kurz darauf klingt ihm diese Stimme im Ohr, ein Mädchen rennt an ihm vorbei und fordert ihn auf, wegzulaufen. Ellert dreht sich um, da stehen schon zwei Jugendliche dicht vor ihm, viel kann er nicht erkennen, sie tragen dunkle Kapuzenpullis, sind zudem fast einen Kopf kleiner als er.
Ellert fragt noch wie im Reflex: „Wisst ihr, wo die Ufer-Studios sind…?“ Es ist eine Frage, die das Schlimmste abwenden will, doch da kassiert er bereits die ersten Fausthiebe ins Gesicht. Er duckt sich, denkt, der Wein darf nicht kaputtgehen, dann rennt er los, und die Jugendlichen auch – in die andere Richtung.
Kein Wort haben sie gesprochen. Nur zugeschlagen.
Das Verbrechen, das am meisten Angst macht, wird häufiger
Ellert gelangt auf die Badstraße, er denkt, wenn jetzt die Polizei vorbeikommt, winke ich, ein Handy hat er nicht dabei. Es kommt niemand, ein paar Meter weiter ist die Party. Ellert sagt sich: Egal, ist ja nicht viel passiert. Seine Lippe ist blutig, das Auge blau und das Gesicht geschwollen. Ein paar Männer aus seinem Fußballteam, die auch auf der Party sind, wollen sofort los, die „Typen suchen“, andere drängen ihn, die Polizei zu rufen. Aber Ellert will nicht, er ist froh, dass er die Sache hinter sich hat. Ein anderer Gedanke ist: Bringt ja doch nichts.
Experten vermuten, dass die Zahl der Fälle, die nicht angezeigt werden, die der angezeigten noch um ein Vielfaches übersteigt, sogar um das Fünffache schätzt die Polizeigewerkschaft. Doch mit den Zahlen im Dunkelfeld ist es so eine Sache – es gibt sie eben nicht.
Auch die offiziellen Zahlen aus der Berliner Polizeistatistik helfen nur begrenzt weiter, weil man sie unterschiedlich interpretieren kann. So ist beispielsweise laut aktueller Statistik die Zahl der Körperverletzungen insgesamt leicht zurückgegangen, doch schaut man genau hin, stellt man fest, dass ausgerechnet die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen wie schon 2016 erneut gestiegen ist. Alarmierend ist zudem, dass bei diesen Delikten auch die Zahl der Angriffe steigt, die im öffentlichen Raum, also auf Straßen, Wegen und Plätzen, stattfinden. Ein Anstieg um 16,7 Prozent. Die Zahl der Delikte also, die den Menschen am meisten Furcht einflößen, weil sie praktisch überall passieren können, steigt.
Ob das Dunkelfeld wirklich immer größer wird, weiß niemand. Es gibt nur Indizien. Bei dem Verein Opferhilfe Berlin etwa suchten 2017 rund 1000 Menschen Hilfe, das war ein Anstieg um 30 Klienten – seit Jahren gibt es diesen leichten, stetigen Anstieg. Dazu muss man wissen, dass sich bei der Opferhilfe oder anderen Hilfseinrichtungen wie dem Weißen Ring deutschlandweit nur weniger als zehn Prozent aller Menschen, die von einer Straftat betroffen sind, melden. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Irland liegt die Quote bei 60 bis 70 Prozent. Das liegt daran, dass dort jeder, der eine Anzeige stellt, ausdrücklich gefragt wird, ob er die Hilfe einer Beratung in Anspruch nehmen möchte.
Die Polizei sagt: Jede Anzeige hilft uns weiter!
Auch die Berliner Polizei, die sich lieber an konkrete Zahlen hält, schreibt 2016 in der Polizeikriminalstatistik von einem „großen Dunkelfeld“. Dieses wiederum wird wissenschaftlich sogar vom Bundeskriminalamt (BKA) untersucht. Die letzten Zahlen stammen aus dem „Viktimisierungssurvey 2012“. Der Bericht beruht auf einer deutschlandweiten Telefonumfrage von 35000 Menschen. Damals fürchteten jeweils knapp 20 Prozent der Bevölkerung, dass sie Opfer von sexueller Belästigung, Raub, Einbruch oder einer Körperverletzung werden könnten. Die neuesten Zahlen aus dem noch in Arbeit befindlichen Survey 2017 werden erst in ein paar Monaten veröffentlicht. BKA-Insider sagen: Die Furcht sei weiter gestiegen.
Es gibt viele Gründe, warum Menschen keine Anzeige stellen. Manchen ist das schlicht zu viel Aufwand, andere finden, es sei ja gar nicht so viel passiert, Dritte wiederum meinen, wie auch Ellert, dass das sowieso nichts bringe. Naturgemäß hat die Polizei dazu eine völlig andere Meinung. Eine Sprecherin betont den Satz wie ein Mantra: „Jede Anzeige hilft uns weiter.“
Sie wirbt dafür, dass man unbedingt auch schon den Versuch eines Überfalls anzeigen solle, „weil wir nur so Lagebilder erstellen können, die uns wiederum helfen, mögliche Täter oder Tatorte einzugrenzen“. Zum sich offenbar verbreitenden Gefühl in der Bevölkerung, Anzeigen seien sinnlos, sagt sie: „Wir können als Polizei auch nicht darauf Rücksicht nehmen, wenn die Justiz überlastet ist.“
In der aktuellsten Statistik ist die Aufklärungsquote der Berliner Polizei von 42 auf 44 Prozent gestiegen. Über 50 Prozent, exakt bei 50,4 Prozent, lag sie zuletzt im Jahr 2007.
Werner Ellert sagt heute selbst, dass es vermutlich besser gewesen wäre, die Polizei zu rufen, schon um vielleicht verhindern zu können, dass die Halbwüchsigen ihre merkwürdigen Mutproben nicht noch an anderen Unschuldigen ausprobieren. Doch auch als seine Freundin ihn am nächsten Morgen sieht, sie war nicht mit auf der Party, lässt er sich von ihr nicht zu einer Anzeige überreden. Dabei blickt er im Spiegel auf ein geschwollenes Gesicht, das sich grün und blau verfärbt hat. „Es war ein permanentes Abwiegeln“, sagt er, kann aber auch nicht genau erklären, warum er sich so stur verhielt. „Umso mehr Leute gefragt haben, umso mehr wollte ich die Sache dann vergessen.“
„Zu Traumatisierungen kommt es nach Todesängsten“
Doch das funktioniert nicht so leicht. Ellert ist erst wütend auf sich selbst, weil er hinter dem U-Bahnhof den falschen Weg genommen hat, und dann darauf, dass er plötzlich Ängste entwickelt. Er geht seltener zu Fuß, fährt lieber mit dem Fahrrad, wenn er auf der Straße zwei Männer sieht, die ihm entgegenkommen, bekommt er einen schnellen Puls, feuchte Hände und muss sofort die Seite wechseln.
Eva Schumann von der Opferhilfe kennt diese Symptome, fast alle Geschädigten, auch die von weniger schweren Überfällen, zeigen solche „Vermeidungsstrategien“, weil ihr Vertrauen in die öffentliche Sicherheit wie aus dem Nichts zerstört wurde. Andere Folgen sind Schlaflosigkeit, Kurzatmigkeit oder Angst- und Panikattacken. Bei der Opferhilfe Berlin sind alle Mitarbeiter auch Traumaberater und können versuchen, die Menschen zu stabilisieren. Reicht das nicht aus, wird auch eine Verhaltenstherapie empfohlen, bei der die Opfer lernen, ihre Ängste in den Griff zu bekommen.
Werner Ellert hatte Glück im Unglück. Seine Ängste verschwanden bald wieder. Trotzdem sind die Grenzen zwischen einer Belastung und einem Trauma fließend. Traumata werden definiert als Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohung. Mittlerweile unterscheiden die Experten zwischen einer klassischen posttraumatischen Belastungsstörung und einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung.
„Zu Traumatisierungen kommt es nach Todesängsten“, sagt der Traumaexperte Christian Lüdke, der etwa mit Opfern und Angehörigen in New York nach dem Terroranschlag von 2001 gearbeitet hat. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Todesgefahr real oder nur subjektiv empfunden worden sei. Ellert hatte keine Todesangst, dementsprechend schnell konnte er seine Ängste überwinden. Doch das ist kein Automatismus. Jeder Mensch reagiert anders, hat andere Vorerfahrungen gemacht. In der Wissenschaft geht man davon aus, dass 50 Prozent der Menschen, die vergewaltigt oder sexuell missbraucht werden, traumatisiert sind, fünf bis 25 Prozent nach anderen Gewaltverbrechen, fünf Prozent nach schweren Verkehrsunfällen oder als Zeugen von Gewalthandlungen. Lüdke sagt: „Wenn eine ältere Frau an der Tür einen unbekannten Mann vor sich hat, der sie ausrauben will, dann kann dieses Erlebnis traumatisierend sein.“
Werner Ellert lebt seit 1984 in Berlin, er wohnt in Kreuzberg, hatte vorher nie Angst, dass ihm etwas passieren könnte. Doch obwohl die Ängste sich längst wieder gelegt haben, sind andere Empfindungen geblieben oder haben sich ausgebreitet. Die Stimme des Mädchens, das ihn wohl warnen wollte, bleibt immer hörbar. Und sein Bild von Berlin hat sich gewandelt. Vielleicht weil er älter geworden sei, vielleicht aber auch, „weil nachts einfach viel mehr Menschen unterwegs sind“.
Abends alleine durch einen Park gehen? Macht er nicht mehr.
Der Name in dieser Geschichte wurde geändert. Alle Namen der Opfer, die im Folgenden zu Wort kommen, sind der Redaktion bekannt.
In Neukölln steht plötzlich ein Mann mit Messer vor ihr
Es war ein gewöhnlicher Samstag. Nach einem Abend mit Freunden in einer Bar war ich auf dem Weg nach Hause. Es war tiefe Nacht. Ich kam vom U-Bahnhof Hermannstraße, lief unbedarft die Straßen entlang, bog dann um eine Ecke und nahm die dunkle Gestalt mit Kapuzenpullover, die dort stand, kaum wahr. Nach einigen Metern hörte ich hinter mir Schritte, die schneller wurden. Die Gestalt überholte mich, bäumte sich mit einem Messer in der Hand vor mir auf und sagte: „Gib mir dein Geld, dann passiert nichts!“
Ohne zu realisieren, was gerade mit mir geschah, kramte ich meinen Geldbeutel hervor und drückte ihm die wenigen Münzen in die Hand, die nach dem Abend noch zu finden waren. Fluchtartig rannte der Mann mit seiner geringen Beute weg, rief aber noch: „Keine Bullen!“ Die wollte ich auch nicht rufen. Ich dachte, das ergibt doch in Berlin, wo das ständig passiert, keinen Sinn. Stattdessen rief ich meinen Freund an, der sofort kam. Er versuchte mich zu überreden, die Polizei zu informieren, aus der Opferrolle herauszukommen. Zwei Tage später stellte ich dann doch noch eine Anzeige. Dass der Überfall mich emotional so aufrühren würde, hatte ich am Abend des Überfalls nicht erwartet. Zu meiner Überraschung wurde ich schnell vorgeladen, der Täter hatte nämlich noch am selben Abend drei weitere Frauen überfallen. Der Polizeibeamte nahm sich professionell und doch einfühlsam meines Falls an. Gleichzeitig machte er mir ein schlechtes Gewissen, als er fragte, wieso ich nicht sofort die Polizei alarmiert hätte. Vielleicht hätten so die weiteren Überfälle verhindert werden können. Er überredete mich, in die Täterkartei zu gucken, obwohl ich das nicht wollte. Ich war mir sicher, dass ich den Mann nicht erkennen würde und wollte niemanden zu Unrecht belasten. Es war zu dunkel, und ich hatte die ganze Zeit auf das Messer starren müssen. Den richtigen Mann habe ich jedenfalls nicht erkannt, meine Aussage deckte sich nicht mit den anderen Aussagen – die Ermittlungen wurden eingestellt.
Viel schlimmer aber war, dass diese Nacht meine Sicht auf Berlin veränderte. Berlin war damals seit eineinhalb Jahren meine Wahlheimat, ich wollte nirgendwo lieber leben. In meinem Kiez in Neukölln fühlte ich mich wohl. Doch nun weckte die Stadt und die Straße, in der ich wohne, ein unfassbares Unsicherheitsgefühl in mir. Hinter jeder Ecke könnte jemand lauern. Einer, der nicht nur Geld will! Ich wusste, dass die Wahrscheinlichkeit dafür nicht gestiegen war, dennoch fürchtete ich mich. Die ersten Tage danach konnte ich meine Wohnung nicht allein verlassen. Ich war auf andere angewiesen. Bald erkannte ich, dass mir Fahrradfahren ein bisschen Sicherheit gab. Also versuchte ich um jeden Preis, meinen Heimweg zu Fuß zu vermeiden und hatte panische Angst, das Fahrrad könnte mir geklaut werden. Mittlerweile, knapp ein Jahr später, ist die Angst fast weg. Trotzdem muss ich immer, wenn ich in meine Straße biege, kurz an das Erlebte denken. mlk
Sie will sich nur auf einen Platz setzen - da will der Mann zuschlagen
Ich benutze jetzt nur noch sehr selten öffentliche Verkehrsmittel. Erst dachte ich im Rückblick, dass das, was mir passiert ist, mich doch lediglich ein paar Wochen beschäftigt hat und dass es ja gar nicht so schlimm gewesen sei. Aber es war dann doch offenbar so intensiv und sitzt so tief, dass ich es vermutlich nie vergessen werde.
Es ist zwei Jahre her, dass ich die S-Bahn am Hackeschen Markt bestieg und Richtung Zoologischer Garten fuhr. Es war sehr voll mitten im Berufsverkehr. Aber ein Sitz war doch noch frei, allerdings lag da eine Herrenhandtasche drauf. Auf dem Platz gegenüber saß ein Pärchen, Frau und Mann, vielleicht Mitte 30. Ich sagte höflich, ich würde mich gern hinsetzen, doch ich bekam keine Antwort. Also setzte ich mich einfach halb auf die Tasche. Doch der Mann, der sehr dick war, schlug sofort und wie aus dem Nichts zu. Und wenn mich seine Faust getroffen hätte, dann wäre wohl einiges gebrochen gewesen.
Doch ich hatte Glück. Neben mir saß noch ein junger Mann, aus Portugal, wie sich später herausstellte, und der griff dem Mann geistesgegenwärtig in den Arm. Ich zitterte am ganzen Körper, das Pärchen trat und beschimpfte mich noch, stieg dann aber sehr schnell an der nächsten Station aus und verschwand in der Masse. Dann kamen zwei junge Teenager auf mich zu, die sagten, sie hätten alles ganz genau beobachtet und sie würden mit mir zur Polizei gehen, wenn ich das wollte. Das fand ich rührend.
Doch irgendwie fühlte ich mich nicht als Opfer, weil mir ja geholfen worden war. Ich dachte: Die sind sowieso verschwunden, die findet die Polizei nicht. Deshalb habe ich keine Anzeige gestellt. Vor einem Jahr wurde nicht sehr weit von meinem Zuhause eine Frau erwürgt, auf dem Weg aus dem Schleusenkrug in Richtung Bahnhof Zoo. Der Fall ist bekannt. Damals dachte ich: Das hätte auch dir passieren können, es war einfach nur Zufall, dass du es nicht warst. Ein Jahr lang konnte ich dort nicht mehr langgehen, aus Furcht. Ich habe mal einen Selbstverteidigungskurs gemacht, und ich denke, dass ich doch eine selbstbewusste Frau bin. Aber seitdem nehme ich vom Bahnhof Zoo immer ein Taxi.
Er beschimpft den Radfahrer, dann schubst er ihn mit Wucht vom Rad
Ich war passionierter Radfahrer, ich weiß, dass es bei Auto- wie Radfahrern eine wachsende Aggressivität gibt. Ich glaube aber, dass das, was ich erlebt habe, nicht darunter fällt, sondern schlicht in die Kategorie: Gewalt.
Es passierte im September vor drei Jahren, als sich in wenigen Minuten mein Leben änderte. An der Kreuzung Berliner Straße/Uhlandstraße war rot, ich näherte mich auf der rechten Fahrspur. Dort hielt ein Pkw. Als ich abbremste, um hinter dem Auto zum Stehen zu kommen, schwenkte ein anderes Auto von links auf rechts, sodass kaum Abstand blieb. Ich fühlte mich unsicher, fuhr los und der Pkw auch. Er fuhr schräg nach rechts und näherte sich mir auf der Kreuzung auf etwa 15 Zentimeter. Ich hatte Angst, dass der Fahrer mich übersehen würde, und tippte während der Fahrt mit der linken Schuhspitze gegen den Kotflügel rechts. Der Fahrer lenkte weiter nach links und gab Gas. Er fuhr erst schnell weiter, zog wieder auf meine Spur und bremste abrupt ab. Ich wollte eine Vollbremsung und einen Sturz vermeiden und überholte ihn. Als er wieder an mir vorbeifuhr, rief er: „Halt an, du feiges Arschloch.“ Auf Höhe der nächsten Kreuzung sah ich, dass der Fahrer parkte. Er stellte sich auf die Fahrspur, um mich zu stoppen. Ich wollte vorbeifahren, dabei stieß der Mann mich mit voller Kraft vom Rad. Ich blieb mit starken Schmerzen am linken Bein liegen.
Der Fahrer forderte mich auf, aufzustehen. Ich solle mich nicht so anstellen. Ich rief liegend die Polizei. Im Krankenhaus stellte sich ein komplizierter Bruch des Schienbeinkopfes unterhalb des Knies heraus, ich wurde sehr lange krankgeschrieben, mein Arbeitgeber kündigte mir deshalb. Der Bruch hat zu einer Behinderung am Knie geführt. Der eingeschaltete Rechtsanwalt konnte es nicht erreichen, dass die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnahm. Der Täter wurde nie vernommen. Ich fahre nicht mehr Rad, mein Vertrauen in den Rechtsstaat ist verloren gegangen.
Ein junger Mann, er kommt von hinten, schon ist der Rucksack weg
Ich lebe seit 40 Jahren in Neukölln, nie ist mir etwas passiert. Aber jetzt, kurz vor Weihnachten, wurde ich vor meiner eigenen Haustür überfallen. Es muss ein sehr junger Mann gewesen sein, aber ich konnte nichts erkennen, er kam von hinten und hatte eine schwarze Kapuze über dem Kopf. Es ging schnell, ich hatte mein Fahrrad gerade abgestellt, den Rucksack hinten im Korb, und schon war er weg. Ich war froh, dass ich meinen Schlüssel noch hatte, so konnte ich schnell in die Wohnung. Gottlob ist mir nichts passiert, aber ich gehe jetzt abends so gut wie nicht mehr weg und mich beschleicht jedes Mal ein unguter Gedanke, wenn ich nach Hause komme. Ich habe dann die Polizei angerufen, und ich war sehr froh, dass sie zu mir nach Hause gekommen ist. Die Polizei wollte wissen, wie der Typ aussah. Aber das konnte ich nicht sagen, er war aber höchstens 15 Jahre alt.
Ich gehöre zur späten 68er-Generation; damals lebten wir in einer absoluten Machogesellschaft, als Frau war man Freiwild! Wir haben damals demonstriert: „Frauen erobern sich die Nacht zurück!“ Ich hätte nie gedacht, dass es 50 Jahre später wieder sehr, sehr düster gerade für uns Frauen aussieht. Als ich jünger war, habe ich Karate gemacht. Ich bin selbstbewusst. Aber die zunehmende Verwahrlosung des öffentlichen Raums, die Zustände am U-Bahnhof Hermannplatz etwa, und oft Horden junger Männer, die rumgrölen, machen für mich das Ausgehen abends mittlerweile unmöglich. Vielen meiner Freundinnen geht es ähnlich. Ich kenne keine Stadt, die dreckiger und verwahrloster ist als Berlin. Für mich gibt es sehr wohl „No-Go-Areas“. Mein jahrzehntelanges Grundgefühl, in Neukölln sicher zu sein, ist jedenfalls verschwunden.
Er versucht, sich die Geschichte nicht zu Herzen zu nehmen
Vor einigen Wochen parkte ich mein Auto in der Straße Alt-Mariendorf, weil ich von dort ausnahmsweise mit der U-Bahn zur Arbeit fahren wollte. Es regnete. Als ich nachmittags gegen 17. 30 Uhr meinen Wagen wieder abholte, bemerkte ich auf der kurzen Fahrt nach Hause einen Platten vorne links. Ich brachte das Auto zum Reifendienst, weil ich annahm, ich sei in einen Nagel gefahren. Aber falsch! Der Reifenhändler fragte mich am nächsten Tag, ob ich Feinde hätte. Denn der Reifen war mit mehreren Stichen bearbeitet worden, ein Stich war so tief, dass der Reifen zerstört wurde. Zudem war auch der Hinterreifen angestochen, nur nicht so tief, dass die Luft entweichen konnte.
Was wäre wohl passiert, wenn der Händler den Schaden am hinteren Reifen nicht entdeckt hätte? Wer möchte, dass ihm ein Reifen auf der Autobahn platzt? Warum macht sich jemand die nicht unerhebliche Mühe, Reifen anzustechen? Und warum ausgerechnet an meinem Auto?
Die zuständige Polizeidienststelle kannte keine vergleichbaren Vorfälle in dieser Gegend. Meine Anzeige wird natürlich ins Leere laufen. Wie soll man so jemanden auch finden? Auf Empfehlung der Polizei habe ich den defekten Vorderreifen vorerst behalten, um Spuren zu sichern. Ich war jedenfalls wütend und sehr verwundert - aber ich habe versucht, mir das nicht zu Herzen zu nehmen, ich lasse das einfach nicht an mich heran. Es war nur Zufall, dass es mich erwischt hat. Parken werde ich dort sicherlich wieder.
Ist unsere Gesellschaft krank, wenn sie das schon für normal hält?
Meine Freundin parkte irgendwann im vergangenen Jahr in einem Parkhaus eines Kaufhauses im Nordosten Berlins, sie stieg aus, betätigte ihr Autoschloss per Fernbedienung und ging einkaufen.
Als sie nach einer guten Viertelstunde zum Auto zurückkehrte, bemerkte sie auf dem Beifahrersitz eine Person, die das Handschuhfach durchwühlte. Sie war völlig konsterniert. Als der Mann sie bemerkte, lief er schnell davon. Aus Angst, eventuell in ein Messer zu laufen, verzichtete sie darauf, ihn selbst zu verfolgen. Meine Freundin und ich finden ja, dass das, was sie da erlebt hatte, schon ungeheuerlich genug ist, aber die Verwaltung des Einkaufszentrums riet ihr dennoch, sich nicht an die Polizei zu wenden. Man sagte ihr, dass man sich schon selbst darum kümmern werde.
Offenbar wurde aber auch von der Parkhausverwaltung oder den Verantwortlichen im Einkaufszentrum die Polizei nicht gerufen. Somit ist dieser Vorfall überhaupt nicht aktenkundig, und dieser Typ läuft dann also weiterhin frei durch die Gegend, liest weiterhin die Codierungen der Autoschlüssel aus und klaut sich reich. Ohne Repressalien! Unsere Gesellschaft ist oder wird krank, wenn so etwas für normal gehalten wird.