Klaus Lederer über Kultur in Berlin während der Coronakrise: „Wer sich in der Pandemie nie geirrt hat, der hebe bitte den Arm“
Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) will Kulturschaffende unterstützen – hält aber nichts von voreiligen Versprechungen. Ein Interview.
Herr Lederer, wann waren Sie das letzte Mal im Kino oder Theater?
Ich war im Spätsommer im Deutschen Theater und habe in der Philharmonie ein Konzert gehört. Im Augenblick überschlagen sich die Dinge so, dass ich nicht mehr sagen kann, wann das genau war. Es geht mir wie vielen: Ich bin wie in einem Tunnel. Zwischen Arbeiten und Erholung gibt es kaum noch einen Ausgleich.
Es ist Vorweihnachtszeit, die Leute gehen shoppen, vergessen Abstand zu halten. Der Konsum läuft – bislang – weiter. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Wir leben im Kapitalismus und Shopping ist ein elementarer Bestandteil, um die Reproduktion von Kapital am Laufen zu halten. Diese „Besinnlichkeit“ wird nur gesteigert durch Werbesequenzenmusik mit „Jingle Bells“ oder „Rudolph, the Red-Nosed Reindeer“.
Während die einen Nothilfen bekommen, andere auf der Intensivstation liegen, führen im Teil-Lockdown viele ihr Leben normal weiter. Ist das solidarisch?
Der Lockdown ist extrem unsolidarisch: In einer solchen Krise treten Ungleichheiten besonders hervor. Noch unsolidarischer wäre es aber, nicht alles zu tun, um die Ansteckungsketten zu durchbrechen: Das Gesundheitssystem gerät massiv an seine Grenzen. Es zeigt sich, dass es nicht belastbar genug ist, um in einer Pandemie adäquat zu reagieren.
Was jahrzehntelang kaputtgespart wurde, korrigiert man nicht in neun Monaten. Aber eines ist auch klar: Ein harter Lockdown wird Konsequenzen haben. Wohlhabende Eltern können den Umgang mit ihren Kindern bei geschlossenen Schulen weitaus einfacher organisieren als eine mehrköpfige Familie oder Alleinerziehende. In einer Villa mit Garten lässt sich ein harter Lockdown besser aushalten als in einem dicht besiedelten Stadtquartier.
Die bisherigen Maßnahmen wirken nicht wie erhofft. Markus Söder will in Bayern jetzt den Glühweinausschank verbieten. Und Berlin?
Ob symbolische Aktionen im Einzelnen Infektionsketten unterbrechen können, würde ich hinterfragen. Wir wissen: Draußen ist die Ansteckungsgefahr deutlich geringer als in geschlossenen, schlecht belüfteten Räumen. Kann Herr Söder mit dem Verbot ausschließen, dass sich die Menschen dann in Wohnungen zum Glühweintrinken treffen?
Wenn ich mir anschaue, was Markus Söder erzählt und welche Maßnahmen er dann umsetzt, reicht das nicht an unsere Berliner Regeln heran. Markige Worte nützen nichts, wenn ich am Ende ein Scheinriese bleibe. Mir ist da zu viel Symbolik im Spiel. Vor sechs Wochen dachte man, dass wir unter Offenhaltung der Schulen und des Einzelhandels die Inzidenzen unter den Schwellenwert von 50 drücken können. Dieser Teil-Lockdown war eine trügerische Hoffnung. Jetzt steuern wir auf ein hartes Herunterfahren zu.
Die Politik der Ministerpräsidenten ist sehr auf das Weihnachtsfest zugeschnitten. Als erstes Land hat Berlin keine Lockerung der Kontaktregeln an den Feiertagen beschlossen. Bayern sei ein christliches Land, sagte dagegen Markus Söder, in dem Weihnachten eine besondere Bedeutung hat. Sieht das hier anders aus?
Weihnachten hat sich inzwischen sehr säkularisiert. Dass der Konsum in der Vorweihnachtszeit von Einschränkungen ausgenommen wurde, zeigt mir, was wirklich hinter der Fokussierung auf die Festtage steht.
Wichtig war uns in Berlin: Wo Menschen sich in geschlossenen Räumen treffen, ist die Ansteckungsgefahr besonders groß. Wir aus der Politik und jeder Einzelne muss abwägen, ob wir weitere Tote und eine noch stärkere Belastung der Krankenhäuser hinnehmen wollen. Das christliche Weihnachten ist geprägt von der Botschaft der Nächstenliebe. Und genau da müssen wir jetzt ansetzen.
Inwiefern?
Ich will den Bürgern das Glühweintrinken nicht verbieten, ich will sie nicht als Untertanen behandeln. Jede und jeder möge sich bitte selbst genau prüfen, welche Kontakte derzeit unbedingt sein müssen. Das wichtigste Geschenk in diesem Jahr ist unsere Gesundheit.
Fast die Hälfte der Berliner ist laut einer Tagesspiegel-Umfrage nicht zufrieden mit der Corona-Politik des Senats – so viele wie nirgendwo sonst in Deutschland. Meckern die Berliner so gern oder was ist los?
Eines der Probleme in dieser Pandemie ist, dass zu viel über Gefühle und Meinungen diskutiert wird und zu wenig über Fakten. Viele Maßnahmen sind bundesweit beschlossen, der Unterschied zwischen den Bundesländern ist marginal. In Berlin können wir doch nicht eine eigene Pandemiebewältigungsstrategie aufstellen. Es gibt keinen Berliner Königsweg.
Wir haben im März extrem schnell Soforthilfeprogramme aufgelegt und mussten uns vom Bund dafür verspotten lassen. Wir haben ein Covid-19-Krankenhaus in Rekordzeit errichtet, das wir hoffentlich nie brauchen werden. Wir müssen uns aber immer anschauen: Welche Maßnahmen werden einer Stadt wie Berlin gerecht? Dazu tauschen wir uns permanent und ohne markige Sprüche mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus.
Noch immer haben Bezirke Inzidenzen von mehr als 200, Berlin insgesamt liegt nur knapp darunter. In anderen Hotspots gibt es nächtliche Ausgangssperren.
Damit soll den Menschen mit dem Holzhammer aufgezeigt werden, dass wir ein Problem haben. Was soll eine Ausgangsbeschränkung bringen? Wo ballen sich zurzeit nachts in Berlin im Freien Leute? Ausgangsbeschränkungen werden keinen Effekt haben. Wir sollten mehr über evidenzbasierte Maßnahmen sprechen.
Das tun wir. Leopoldina-Wissenschaftler sagen, dass es sofort einem harten Lockdown braucht, auch der Virologe Christian Drosten schlägt schnelle, harte Maßnahmen vor. Worauf warten Sie?
Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu merken, dass die Zahlen nicht nach unten gehen. Vor sechs Wochen haben wir von Experten den Rat zum Teil-Lockdown bekommen. Danach könnten wir zum gewohnten Leben aus dem Sommer zurückkehren, wurde uns gesagt.
Jetzt beklagen wir jeden Tag um die 500 Tote. Natürlich wäre es das effektivste Mittel, das gesamte gesellschaftliche Leben runterzufahren. Wenn alle sich für drei Wochen Lebensmittel kaufen und die Türen abschließen, unterbricht das jede Infektionskette. Aber was hätte das für existenzielle, soziale, psychische und wirtschaftliche Folgen?
Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci hat gesagt, sie wolle einen harten Lockdown und zwar „so schnell wie möglich“. Der Regierende Bürgermeister hat am Donnerstag die Schließung von Schulen und Geschäften bis zum 10. Januar angekündigt. Im Senat soll ein Runterfahren kurz vor Weihnachten im Gespräch sein.
Wir diskutieren im Senat jetzt verschiedene Möglichkeiten. Ich präferiere einen gut vorbereiteten, harten Lockdown. Das heißt: Schulen schließen, Homeoffice, wo es möglich ist, strikte Begrenzung des Einkaufs auf das Notwendigste. Die Konsequenzen daraus müssen jedoch zwingend sozial abgefedert werden, durch ausreichende Hilfeangebote.
Wird die Versammlungsfreiheit wie im ersten Lockdown eingeschränkt? 20.000 „Querdenker“ wollen an Silvester nach Berlin kommen, dabei sind auch extreme Rechte.
Eine generelle Einschränkung der Versammlungsfreiheit wollen wir nicht. Die verfassungsrechtlichen Hürden dafür sind, zu Recht, enorm hoch. Wir sind uns aber im Senat einig, dass wir eine solche Großdemonstration in dieser Zeit nicht akzeptieren können, zumal niemand dort die Regeln einhält.
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Es gibt Möglichkeiten der Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, und wir werden uns im konkreten Fall anschauen, wie wir diese nutzen können. Ein Verbot wird man rechtlich genau prüfen müssen. Es muss rechtssicher sein.
Fühlen Sie sich gerade bestätigt? Sie hatten einen harten Lockdown schon Ende Oktober im Senat ins Gespräch gebracht. Ohne Erfolg.
Als ich vor sechs Wochen davon gesprochen habe, kurz und hart Pause zu machen, war das in der Gesellschaft nicht diskutierbar. Das Ziel war damals, einen Lockdown wie im Frühjahr unbedingt zu vermeiden. Jetzt ist klar: Wir brauchen härtere Maßnahmen, um Menschenleben zu retten.
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Seit neun Monaten bin ich in der Situation, dass es Menschen gibt, die das alles viel zu hart finden, was ich treibe, andere finden alles zu lasch. Das ist ein permanenter Erkenntnisfortschritt und die Zahl meiner Irrtümer ist sicherlich nicht gering. Aber wem es anders geht, der hebe bitte den Arm.
Der Kulturbereich ist schon heruntergefahren. Die Novemberhilfen der Bundesregierung kommen aber erst im Januar. Kleine Theater und Bars stehen vor dem Ruin. Warum springt Berlin nicht schnell ein?
Ich fordere seit Monaten, dass Hilfsgelder zwischen Bund und Ländern verrechnet werden, dass der Bund sich danach keinen schlanken Fuß machen kann. Wenn Länder helfen, bleiben sie zurzeit auf den Kosten sitzen.
Ich habe etwas sarkastisch über die Forderung des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz lachen müssen, der sich um Kulturschaffende in der zweiten Jahreshälfte 2021 kümmern will – aber die Novemberhilfe nicht vor Januar auszahlen kann. Künstlerinnen und Künstler haben jetzt Probleme, die auch jetzt gelöst werden müssen. Aber, wenn Herr Scholz schon so weit vorausdenkt, könnten wir auch darüber reden, die großen Gewinner der Verhältnisse vor der Pandemie an den Kosten zu beteiligen.
Was genau meinen Sie?
Wir müssen die großen Digitalkonzerne wie Google und Facebook hierzulande adäquat besteuern, wir reden seit Jahren über eine Finanztransaktionssteuer, auch eine höhere Vermögens- und Erbschaftssteuer könnten für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.
Das hilft dem Berliner Theaterbetreiber jetzt nicht mehr.
Kleine und mittlere Kulturbetriebe bekommen in Berlin in der dritten Runde Soforthilfen, in jeder Runde waren 30 Millionen im Topf, die mehr als 200 Betriebe erreichten. Wir haben 2000 Stipendien für Künstlerinnen und Künstler vergeben, für zusammen 18 Millionen, wir haben die Ausfallhonorare von Mitarbeitern von Kulturprojekten übernommen.
Das werden wir solange aufrechterhalten bis das Kulturleben wieder hochgefahren werden kann. Reine Liquiditätshilfen werden aber nicht ausreichen. Wir planen deshalb eine Anschubfinanzierung für die Zeit nach Corona. Was wir nicht machen können: Überall dort, wo der Bund versagt, einspringen.
Wie könnte denn eine solche Anschubfinanzierung für Kulturbetriebe aussehen? Worauf können sich die Kulturschaffenden einstellen?
Die Anschubfinanzierung wird dann konzipiert, wenn es eine ernsthafte Öffnungsperspektive gibt. Im Augenblick machen wir Existenzsicherung. Es geht ganz schlicht darum, das Kultur-Sterben zu verhindern.
Berlin lebt wie kaum eine andere Stadt vom Kultursektor. Die Clubs, das hatte die Interessenvertretung der Berliner Clubs 2018 ausrechnen lassen, bringt der Stadt fast 1,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr. Droht Berlin nach der Pandemie zu verarmen?
Ich bin der Kultursenator, wir machen keine Wirtschaftsförderung. Wir fördern die Kultur um der Kultur willen. Das Sterben oder auch nur die Verarmung des Kultursektors - und Berlin wäre nicht mehr das Berlin, das wir lieben.
Mein Anspruch ist, alles dafür zu tun, dies zu vermeiden. Die Berlinerinnen und Berliner wissen das Kulturangebot der Stadt nicht nur sehr zu schätzen, sie nehmen es auch mehr als andere wahr. Zurzeit können wir nur konsumieren, arbeiten, beten, schlafen - jeder merkt doch, was alles fehlt. Der starke Kultursektor ist in die Berliner DNA eingeschrieben.
Können Sie den Kulturschaffenden Hoffnung machen?
Wir arbeiten an Öffnungsszenarien. Wir können aber zurzeit nicht sagen, dass zum Beispiel ab Anfang Februar wieder geöffnet werden kann. Das wäre unseriös. Wir haben aber Pläne für den Fall, dass die Inzidenz wieder unter 50 fällt: Als erstes könnte in gut belüfteten Räumen die kulturelle Bildungsarbeit für Kinder öffnen.
Auch Museen und Galerien mit Belüftungsanlagen könnten aufmachen, weil dort Menschenströme gut geleitet werden können. Wir versuchen eine Choreografie des Ermöglichens zu entwickeln.
Sie hatten Anfang Dezember angedeutet, dass die Berlinale im Februar nicht wie geplant stattfinden könnte. Wird sie auch zum Streaming-Event?
Die Berlinale ist eine Bundesangelegenheit, und ich stecke nicht in den Details, aber: Die Macherinnen und Macher wissen sicherlich sehr genau, was die augenblickliche pandemische Lage für sie bedeutet. Der schönste Film ist nicht zu genießen, wenn die Angst mitschaut. Ich weiß, dass viele andere Kultur-Akteure hybride oder rein digitale Veranstaltungen machen und da tolle Sachen draus geworden sind.