Berliner Grünen-Chef attackiert die SPD: „Wer Giffey wählt, wacht mit CDU und FDP an der Regierung auf“
Machen die Grünen nur Politik für die Innenstadt? Werner Graf widerspricht und wirft Franziska Giffey vor, sie habe nur „Benzin im Blut und Beton im Kopf“.
Herr Graf, wir sitzen in der Landesgeschäftsstelle der Grünen in Mitte, hier gibts neue Radwege, man kann die Wege mit dem Lastenrad fahren. Vergessen die Grünen manchmal, dass es auch Leben außerhalb des S-Bahnrings gibt?
Unsinn. Da nimmt es die Giffey-SPD mit der Wahrheit nicht so genau, um ein Schreckgespenst aufzubauen, das so einfach nicht existiert. Das Gegenteil ist richtig: Wir versprechen, dass wir künftig zwei von drei Euros in der Verkehrswende in die Außenbezirke investieren.
Was wollen Sie mit dem Geld tun?
Wir haben einen Hauptstadttakt vorgeschlagen: Alle fünf Minuten sollen Bus und Bahn in dicht besiedelten, alle zehn Minuten in weniger dicht besiedelten Gebieten kommen. Damit ist nicht nur der S-Bahnring gemeint, sondern auch dichtbesiedelte Gebiete zum Beispiel in Spandau oder Pankow. Auch Sharing-Angebote oder Rufbusse wollen wir am Stadtrand stärken.
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Wenn wir die Verkehrswende schaffen wollen, dann müssen wir mehr Angebote in die Außenbezirke bringen. Der Pendelverkehr von dort, belastet die Innenstadt. Deshalb planen wir Radschnellwege, haben neue S- und U-Bahnwagons bestellt oder bauen massiv die Tram-Linien aus.
Ein Drittel der nächsten Grünen-Fraktion wird womöglich aus Friedrichshain-Kreuzberg kommen. Aus der innersten Innenstadt. Sie sind selbst Mitglied dieses Kreisverbandes. Ist das nicht ein Repräsentationsproblem?
Wir haben auf unserer Liste sichergestellt, dass alle Bezirke in unserer Fraktion vertreten sein werden. Die Außenbezirke sind in den Top 10 unserer Liste. Aber ich will auch mal eine Lanze für die Innenbezirke brechen: Monika Herrmann sagt doch ganz klar, dass sie in Friedrichshain-Kreuzberg nur eine Verkehrswende hinkriegt, wenn das auch in den Außenbezirken organisiert wird.
Die Grünen sind in den Umfragen zuletzt abgestürzt, die SPD zieht vorbei. Dabei bekommt das grüne Kernthema, die Verkehrswende, in Umfragen große Zustimmung: Um die 70 Prozent der Berliner wollen zum Beispiel dringend bessere Radwege. Warum profitieren Sie nicht?
Umfragen sind nur Umfragen. Wir sind eine Partei der Veränderung und wer Veränderung will, dem weht oft der Wind scharf ins Gesicht. Neues kann Angst machen, deshalb stellen wir heraus, wie Veränderung das Leben besser machen kann: Wir haben mit der Hauptstadtvision gezeigt, wie wir uns die Stadt der Zukunft ganz bildlich vorstellen - mit viel Grün, mehr Platz für Fußgänger und Fahrräder, mehr Aufenthaltsqualität. Wir werden bis zur Wahl klar machen: Franziska Giffey will Berlin mit Benzin im Blut und Beton im Kopf führen. Bettina Jarasch will diese Stadt mit Herz und Verstand führen!
Herzenssache Berlin ist doch schon der Slogan von Franziska Giffey.
Es hilft nichts, das nur auf Plakate zu kleben. Wir sehen doch, immer wenn‘s konkret wird, rutscht der Giffey-SPD das Herz in die Hose. Franziska Giffey hat kürzlich gesagt, sie will bei Neubauten maximal 30 Prozent Sozialwohnungen.
Das ist viel zu wenig, wenn man sich anguckt, wie viele Menschen in Berlin Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein haben. Das ist genau der Wohnraum für die Krankenschwester, von der sie immer spricht. Gerade für diese Menschen brauchen wir aber mehr bezahlbare Wohnungen. Herzenssache Berlin ist bei der Giffey-SPD nicht mehr als eine Überschrift.
„Das ist keine Herzenssache, das ist kalte Politik“
Das ist ein harter Vorwurf an den eigenen Koalitionspartner.
Wissen Sie, jeder zweite Berliner hat Angst, aus seinem Zuhause vertrieben zu werden. Gerade ältere Menschen haben richtige Existenzangst. Franziska Giffey sagt nur, dass sie auf keinen Fall enteignen will, sonst aber alles passt.
Sie hat aber keinen Plan, wie sie Mieter schützen will. Das ist keine Herzenssache, das ist kalte Politik. Die Giffey-SPD will zurück zu den stadtentwicklungspolitischen Ideen der 60er Jahre. Die fünf Bs von Giffey sind doch nur zwei: Benzin und Beton.
Was schlagen die Grünen denn vor?
Wir wollen eine progressive und lebenswerte Stadt! Wir haben mit dem Mietenschutzschirm unseren Plan vorgelegt. Wir wollen denen Bauland geben, die sich darunter begeben und sich rechtlich verbindlich an soziale und ökologische Kriterien binden. Dafür fördern wir sie auch. So wollen wir das Ziel 50 Prozent gemeinwohlorientierter Wohnungen erreichen.
Was ist Ihnen wichtiger: Dass Studenten oder Facharbeiterinnen, die nach Berlin ziehen, noch einen bezahlbaren Wohnort finden oder dass die Menschen, die hier wohnen, keine Angst haben müssen, verdrängt zu werden?
Das eine schließt doch das andere nicht aus. Ich finde das schwierig, beides gegeneinander auszuspielen.
Aber ist das nicht die Crux der rot-rot-grünen Wohnungsmarkpolitik? Entweder man schützt Mieter mit protektionistischen Maßnahmen, vertreibt Investoren. Oder man schafft ein Klima, in dem auch investiert wird und neuer, auch bezahlbarer Wohnraum entsteht.
Es hält uns doch niemand davon ab, beim Bauen noch besser zu werden. Auch wir wollen 20.000 neue Wohnungen in Berlin pro Jahr. Wir wollen aber gleichzeitig die Bestandsmieter schützen. Beides zusammen kombiniert der Mietenschutzschirm übrigens. Ich wüsste gar nicht, wo der Dissens ist?
Wer soll die tausenden Wohnungen denn bauen, wenn ihre Spitzenkandidatin Bettina Jarasch beim Enteignungsvolksentscheid mit Ja stimmen will?
Genossenschaften, gemeinwohlorientierte Vermieter – es gibt so viele die sofort und schnell losbauen können und gleichzeitig bereit sind, sich sozialen und ökologischen Kriterien zu verpflichten. Geben wir diesen doch für die Verpflichtung Land im Erbbaurecht. Genau das ist Teil unsere Alternative, dem Mietenschutzschirm. Wir haben eine Vision. Die SPD hat nicht mal einen Plan, außer: Beton, Beton, Beton.
„Die SPD hat davor jahrzehntelang die autogerechte Stadt gebaut“
Die Grünen regieren in Berlin seit fünf Jahren, stellen die Verkehrssenatorin. SPD-Fraktionschef Raed Saleh hat dem Radwegeausbau kürzlich ein "befriedigend" gegeben. Ohne die Pop-Up-Radwege wäre die Bilanz wahrscheinlich eher mangelhaft ausgefallen. Was für eine Note geben Sie?
Eine 2+!
Wirklich?
Ja, wir haben es geschafft in den vergangenen fünf Jahren das Ruder rumzureißen. Als wir die Verkehrsverwaltung von der SPD übernommen haben, war da gar nichts. Es gab in ganz Berlin drei Personen, die für die Planung von Radwegen zuständig waren. Jetzt sind es 70.
Wir mussten also erstmal die Verwaltung umbauen und das geht nicht von heute auf morgen. Die SPD hat davor jahrzehntelang die autogerechte Stadt gebaut und stellt sich jetzt hin und wirft uns vor, wir seien nicht schnell genug sie zurückzubauen. Dazu fällt mir nur ein Wort ein: wohlfeil.
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Jetzt plakatiert die SPD auch noch „U-Bahn bauen, Klima schützen“, dabei hatte sie Jahrzehnte die Verantwortung für das Verkehrsressort. Warum wurde damals nichts geplant? Das hat alles Regine Günther auf den Weg gebracht.
„U-Bahn, U-Bahn, U-Bahn zu schreien, ist keine Lösung“
Die Signale der Grünen waren, was die U-Bahnen betrifft, waren bis vor kurzem negativ. Es wurde vor allem über die katastrophale CO2-Bilanz neuer U-Bahntunnel gesprochen. Woher der Sinneswandel?
Der U-Bahn-Ausbau ist ein heikles Thema, weil er nicht per se ökologisch ist. Solche Strecken zu bauen, dauert sehr lang und ist sehr, sehr teuer. Wir kriegen mit dem Tram-Ausbau und mit Elektro-Bussen mit weniger Geld, schneller mehr Menschen befördert.
Wir haben aber immer gesagt, dass wir bei U-Bahnen abwägen: Wenn Strecken klimatechnisch vernünftig sind und genug Menschen gut anbinden, dann sind wir offen dafür. Es ist nur keine Lösung für uns, ideologisch durch die Stadt zu laufen und "U-Bahn, U-Bahn, U-Bahn" zu schreien, weil man dem Individualverkehr nicht schaden will. Die Giffey-SPD will dem Auto keinen Millimeter nehmen.
Aber auch ihr Koalitionspartner will die Menschen doch zum Umstieg auf Bus, Bahn oder Fahrrad bewegen. So steht es im Wahlprogramm.
Ja, das steht dort. Aber wenn es hart auf hart kommt, dann blockiert die Giffey-SPD – siehe Mobilitätsgesetz. Wir haben es mit der SPD von Michael Müller, die die Stadt voranbringen wollte, im Senat geschafft, das Mobilitätsgesetz durchzubringen. Nun verhindert die Giffey-SPD, die von Raed Saleh im Parlament durchexerziert wird, dieses Gesetz, weil sie nicht bereit ist, Parkplätze freizugeben.
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Wer Ladezonen für die Wirtschaft will, Platz für Fußgänger und Fahrradfahrer, kostenlosen Erholungsraum und vielleicht auch mal eine Bank unter einem Baum, der muss auch den Mut haben, Autos Platz wegzunehmen. Der Giffey-SPD fehlt dieser Mut.
„Wir wollen die Stadt autoarm machen“
In der nächsten Legislaturperiode, das hat Franziska Giffey angekündigt, will die SPD wieder ein Super-Ressort Stadtentwicklung und Verkehr schaffen. Ist das für die Grünen denkbar, beides aus der Hand zu geben?
Die Vergangenheit hat doch gezeigt: dieses von der SPD geplante Überlastungsressort funktioniert nicht. Es gab das alles schonmal, Verkehr hat darin keine Rolle gespielt. Es gab keine Tramplanung, keine S-Bahnbestellungen, keine Radwegeplanung.
Wenn Franziska Giffey außerdem wirklich in eine Koalition mit CDU und FDP will, dann werden unsere ganzen Erfolge rückgängig gemacht. Der Verwaltungsumbau, der gerade seine Wirkung entfaltet, würde sofort zerschlagen. Sie glauben doch nicht, dass die 70 Radwegeplaner bleiben! Auch die Solarpflicht, der Kohleausstieg oder der Schutz grüner Oasen wird doch als erstes gestrichen werden.
Was wäre denn ihr Ziel? Die autofreie Stadt?
Nein, wir wollen die Stadt autoarm machen. Wir wollen autofreie Kieze, Spielstraßen oder Klimastraßen ermöglichen. Aber natürlich werden wir in der ganzen Stadt weiter Autoverkehr haben. Niemand von uns hat gesagt, dass die Grünen ein komplett autofreies Berlin wollen. Wie gesagt, die Giffey-SPD nimmt es hier mit der Wahrheit mal wieder nicht so genau. Aber sie müssen diesen Popanz wohl aufbauen, um zu kaschieren, dass sie selber keine Vorstellung vom Berlin der Zukunft haben.
Das Volksbegehren „Berlin autofrei“ hat Bettina Jarasch als „Rückenwind für die Grünen“ bezeichnet. Bald muss sich das Parlament wohl damit beschäftigen, ob die Forderungen übernommen werden sollen. Wie verhalten sich die Grünen?
Es ist Rückenwind für die gemeinsame Sache, aber es zielt nur auf die Innenstadt – wir brauchen die Verkehrswende in ganz Berlin. Ich persönlich finde die Vorschläge auch zu kompliziert und bürokratisch. Wir müssen stattdessen an vielen Stellen in der Stadt - Innen und Außen - autofreie Kieze zu schaffen.
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Wir müssen viele lebenswerte Oasen schaffen, dann werden immer mehr Leute sagen: Ja, das will ich auch! Das ist unser System. Grundsätzlich verstehen wir das Volksbegehren aber als Unterstützung, auch wenn der Weg dahin ein anderer ist. Wir werden versuchen uns mit der Initiative zu einigen.
Bettina Jarasch hat zuletzt zwar deutlich an Bekanntheit gewonnen, in der Beliebtheit bleibt sie aber abgeschlagen hinter Franziska Giffey oder Klaus Lederer. War ihre Aufstellung richtig?
Wir haben uns als Grüne ganz klar dafür entschieden, nicht die bekannteste Politikerin aufzustellen, sondern die beste. Davon sind wir fest überzeugt. Bettina Jarasch hat einen Plan, wo sie mit dieser Stadt hinwill und weiß auch, wie das gehen soll.
Das weiß Frau Giffey offenbar nicht. Zu ihrer Plagiatsaffäre um die Doktor- und Masterarbeit, fallen ihr nur zwei lapidare Sätze ein - keine Aufklärung, nur Ablenkung. Und dann schreibt sie für ihre aktuelle Politik auch noch die Stadtentwicklungspolitik der 60er Jahre ab. Da hat Berlin Besseres verdient.
„Franziska Giffey blinkt eindeutig in Richtung einer Koalition mit schwarz und gelb“
Franziska Giffey ist immer noch die beliebteste Kandidatin, sie hat Regierungserfahrung, im Bezirk und im Bund. Was hat Bettina Jarasch, was ihre Konkurrentin nicht hat?
Franziska Giffey produziert Überschriften ohne Substanz, Bettina Jarasch legt gerade substanzielle Pläne vor, wie wir Berlin sozial gerechter und klimaneutral gestalten können. Das ist der Unterschied.
Die Liebe zwischen Grünen und SPD scheint zurzeit erkaltet. Ist das dem Wahlkampf geschuldet oder gehen ihnen nach fünf Jahren Regierung die Gemeinsamkeiten aus?
Also, erstmal: Ich liebe meinen Mann und sonst niemanden. In der Politik geht es um das Ringen um die besten Konzepte. In der SPD sind sehr viele Leute, die eine progressive Politik möchten. Franziska Giffey blinkt aber eindeutig in Richtung einer Koalition mit schwarz und gelb.
Das sollten die Wählerinnen und Wähler wissen. Wer Giffey wählt, wacht mit FDP und CDU auf und kann dann von Verkehrswende, Mieterschutz oder einem klimaneutralen Berlin nur noch träumen.
61 Prozent der Berliner waren zuletzt unzufrieden mit Rot-Rot-Grün. Glauben Sie, das grüne Bekenntnis zur bisherigen Koalition wirkt auf die Berliner besonders verheißungsvoll?
Ich glaube, der Berliner meckert grundsätzlich gern. Das finde ich persönlich ja sehr sympathisch. Als Staatsbürger halte ich es für gut, grundsätzlich erstmal kritisch gegenüber einer Regierung eingestellt zu sein. Das ist im grünen und linken Milieu sicherlich nochmal ausgeprägter.
Aber wissen Sie: Rot-Rot-Grün hat in den vergangenen fünf Jahren zu jedem Zeitpunkt eine stabile Mehrheit. Immer. Wir haben ein Jahrzehnt der Investitionen gestartet, aber wir sind noch lange nicht fertig. Es lief Jahrzehnte lang so viel schief in Berlin, dass stellt man nicht in fünf Jahren vom Kopf auf die Füße. Wir wollen deshalb gern mit SPD und Linken weiterregieren- aber eben mit frischem grünen Wind im Roten Rathaus.