Algerischer Fleischer zum Achtelfinale gegen Deutschland: "Wenn wir gewinnen, könnte das eine kleine Rache sein"
Vor 35 Jahren kam der Algerier Youcef Haroun als Gastarbeiter in die DDR - und ist in Berlin heimisch geworden. Die Schande von Gijón hat der Fleischer dennoch nicht vergessen.
Wenn Youcef Haroun sein Hackebeil auf die Rippchen niederfahren lässt, ist er glücklich. Großzügig schneidet er Scheiben vom Fleisch ab, aus dem noch die Knochen ragen. Es ist Freitagabend, bestes Grillwetter, und morgen beginnt der Ramadan – Hochbetrieb in der Fleischerei Haroun an der Prinzenallee, die den vertraulichen Untertitel „Chez Youcef“ trägt. Ein Kunde kann es kaum abwarten, das Fleisch auf den Grillrost zu bekommen und drängelt: „Hast du Entrecôte, Bruder?“ Der 58-jährige Fleischer weiß den Mann in Schach zu halten: „Ein Wort reicht, Bruder.“ Er breitet die Arme aus, umfasst mit seiner Geste den kleinen Verkaufsraum mit der Deckengirlande mit Flaggen aus aller Welt, den Regalen mit Kichererbsen, Couscous und Harissa, den Plastiktüten in den algerischen Nationalfarben Grün, Weiß und Rot und den wartenden Menschen vor der Verkaufstheke: „So viele nette Kunden habe ich hier.“
Bis zu der Fleischerei in Wedding war es ein langer Weg. Den Laden hat er erst vor vier Jahren eröffnet, obwohl er den Beruf seines Vaters im Herzen trug. Während der Algerier das Entrecôte auf das Hackbrett wuchtet, schneidet, abwiegt und in eine Styroporschale verpackt, erinnert er sich daran, wie er vor 35 Jahren als Soldat der algerischen Armee in der Wüste stationiert war und mit großem Abenteuerdurst in seine Heimatstadt Algier zurückkam. Die Anzeige in der Zeitung mit dem Angebot, eine Fachausbildung zum Dreher und Fräser in der DDR zu machen, kam da gerade recht. Er landete in Ludwigsfelde, wo er mit 200 anderen algerischen Gastarbeitern in einem Wohnheim der IFA Automobilwerke wohnte. 18.000 Algerier unterzeichneten Ende der siebziger Jahre im Rahmen des Abkommens zwischen der DDR und Algerien befristete Rahmenverträge und bildeten so neben den Vietnamesen und Angolanern eine der größten Gruppen der Gastarbeiter in Ostdeutschland.
Zweite Heimat Berlin
Der Anfang war alles andere als leicht: Aus dem ersten Heimaturlaub wollte er eigentlich nicht wieder zurückkehren. „Aber nach zwei, drei Wochen habe ich dann Deutschland wieder vermisst.“
Denn obwohl Kontakt zwischen Gastarbeitern und deutscher Bevölkerung von den Behörden nicht gerne gesehen wurde, ließen sich die jungen Männer ihren Spaß nicht verbieten und feierten am Wochenende mit der Ludwigsfelder Jugend. „Wir waren doch jung und knackig, die Ältesten unter uns waren höchstens Mitte zwanzig“, erinnert sich Haroun. Rassismus habe er nie erlebt, sagt er. Trotzdem ist er sich bewusst: „Wir waren damals nicht gerne gesehen.“ Denn vor allem die Ludwigsfelder Eltern hatten Angst, dass ihre Töchter einen der Gastarbeiter heiraten und nach Algerien auswandern könnten. Keine abwegige Befürchtung, denn die DDR-Gastarbeiterpolitik zwang die große Mehrheit der Algerier zur Rückkehr in ihr Heimatland, sobald der Vertrag nach vier Jahren auslief. Haroun hatte Glück, er durfte nach achtmonatiger Trennung zu seiner Frau und den drei Söhnen zurückkehren. 1987 folgte er dann seinen algerischen Bekannten nach Berlin. „Hier habe ich dann meine zweite Heimat gefunden.“
Über dem Durchgang zur Fleischerstube hängt eine algerische Flagge zwischen zwei Deutschlandflaggen. Heute leben laut Statistik 826 Algerier in Berlin, es gibt deutsch-algerische Kulturvereine und eine Facebook-Seite „Algerier in Deutschland“, die Tipps und Kontakte für Algerier in Berlin anbietet. Die Mehrheit der Berliner Algerier wohnt in Mitte, aber sie kommen aus allen Bezirken, um bei Youcef Haroun einzukaufen. Sein Laden wirbt mit dem Titel „Boucherie de confiance“ (Fleischerei des Vertrauens). Eine Kundin aus Mitte ist trotz Feierabendverkehrs mit ihrem Bruder aus Tempelhof hergefahren. „Youcef hat einfach einen gewissen Ruf in der Stadt“, sagt sie, bevor sie an die Reihe kommt. „Was darf’s denn sein, Madame?“ Sie bestellt Hackfleisch, das Haroun frisch schneidet und durch den schmatzenden Fleischwolf presst. Sie ist die letzte Kundin für heute. Sein Tipp für das Spiel Algerien gegen Deutschland? Er sei für beide Länder, aber vielleicht ein bisschen mehr für Algerien. Er lächelt breit und lässt seine weißen Zähne blitzen. „Wenn wir am Montag gewinnen, könnte das eine kleine Rache sein. Auf diese Chance warten wir seit 1982.“
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