Zeugen Jehovas - Aussteiger berichten: „Wenn der Zug kommt, springe ich“
Am Wochenende trafen sich die Zeugen Jehovas im Olympiastadion in Berlin. Sie gelten manchen als antiquiert, aber harmlos. Doch das sind sie nicht, warnen Aussteiger - und berichten von rigiden Regeln und Seelenqual.
Wenn Maria M. (Name geändert) die Einladungen liest, die in den vergangenen Tagen überall in Berlin verteilt wurden, steigen ihr unwillkürlich Tränen in die Augen: Die Zeugen Jehovas freuen sich, viele Menschen zu ihrem sogenannten Bezirkskongress an diesem Wochenende im Olympiastadion begrüßen zu können, steht da. Maria M. denkt an ihren kranken Mann, an ihre erwachsenen Kinder, die nichts mehr mit den Eltern zu tun haben wollen, an ihre Enkel, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Und sie denkt daran, mit wie viel Hoffnung sie vor 24 Jahren ins Olympiastadion ging.
„Das war der erste Kongress, den wir besuchten“, erinnert sich die Ostberlinerin. „Nach dem Mauerfall konnten wir endlich Kontakt zu den Zeugen im Westen aufnehmen. 45 000 waren im Olympiastadion – es war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit und gleichzeitig Geborgenheit.“ Ihre Stimme wird leiser: „Hätte ich doch nur damals schon gewusst, was auf mich zukommt. Aber ich war einfach total naiv.“
Klingeln an der Tür
In den Siebzigerjahren war Maria M. mit den Zeugen Jehovas, der wohl bekanntesten religiösen Sondergemeinschaft in Deutschland, in Berührung gekommen. Eine ältere Dame hatte an ihrer Tür geklingelt und mit der jungen Mutter über Gott und die Welt, vor allem aber über die Bibel geredet. Maria M. war angenehm überrascht, weil vieles, was die ältere Dame sagte, ihr Herz berührte. „Es ging um eine gerechtere Gesellschaft, um die Beendigung von Ausbeutung und eine reine Erde – also mehr Umweltschutz, Gesundheit und Harmonie“.
Maria M. begann ein sogenanntes Heimbibelstudium, ließ sich 1981 taufen und überwand im Laufe der Jahre sogar ihre Angst, selbst an Türen fremder Menschen zu klingeln. Dass die Zeugen Jehovas in der DDR zunächst verfolgt und eingesperrt und nach dem Machtantritt Erich Honeckers immer noch bespitzelt und misstrauisch beäugt wurden, schreckte sie nicht. Im Gegenteil: „Die Zeugen lehnen den Dienst an der Waffe ab. Diesen Pazifismus fand ich gut.“
Und den Zusammenhalt mit den Brüdern und Schwestern, wie sich die Zeugen untereinander nennen. Maria M. begeisterte ihren Mann von der Gemeinschaft, die den hohen Wert der Familie propagiert. Sie ließ ihre Kinder taufen und erzog sie im Sinne der Zeugen. Heute fühlt sie sich deshalb schuldig. „Ich hätte das nie tun sollen, aber ich wähnte mich auf dem richtigen Weg.“
Nach und nach kamen die Zweifel
Die Zweifel kamen erst allmählich. Maria M. erzählt, dass sie gern für alle da war, die sie brauchten – auch für ihre betagten Eltern. Als sie immer mehr Zeit für deren Betreuung und Pflege benötigte, sei ihr bedeutet worden, dass man dies nicht gut fände, weil sie dadurch weniger Zeit für die Gemeinschaft habe. Sie habe eingewandt, dass man doch laut Bibel Vater und Mutter ehren solle. „Aber das bezog sich nach Ansicht der Ältesten nicht auf Ungläubige“, sagt sie. „Ich empfand das als unmenschlich.“ Außerdem sah Maria M. immer kritischer, dass nicht alle Schwestern und Brüder so lebten, wie sie es propagierten. „Jene, die am meisten Bescheidenheit predigten, hatten das größte Grundstück, zwei Autos, kauften sich Aktien“, sagt sie.
Die Zweifel bezogen sich auch auf die Theorie selbst, die sie als immer widersprüchlicher empfand. Am meisten aber, sagt sie, habe sie schockiert, wie man mit ihrer eigenen Tochter nach einem für die Zeugen sündhaften Fehltritt umging. „Sie war verheiratet und wurde, weil sie einmal einen anderen Mann küsste, vor die Ältesten geholt. Die haben sie mehrfach auf widerliche Weise befragt und dann mit zeitweiligem Verstoß aus der Gemeinschaft bestraft.“
Maria M. erinnert sich noch wie heute an den Anruf. „Mama, ich stehe am Bahnhof“, habe ihre völlig verzweifelte Tochter gesagt. „Wenn der Zug kommt, springe ich.“
Heute hilft Maria M. Menschen, die sich lossagen wollen
Irgendwie schaffte es Maria M., ihre Tochter dazu zu überreden, sich nicht das Leben zu nehmen und die Zeit der sozialen Isolation zu überstehen. Das gelingt nicht allen, sagt Thomas Gandow. Der evangelische Pfarrer war bis 2011 der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Mehr als drei Jahrzehnte lang hat er sich auch um Menschen gekümmert, die keine Zeugen Jehovas mehr sein wollten und dafür manchmal einen hohen Preis zahlen mussten.
„Das ist ein Gefängnis ohne Mauern, weil der Druck rein psychisch ist“, sagt Gandow. „Die Abtrünnigen erleben die Erziehungsmaßnahme des totalen ,Gemeinschaftsentzugs‘ als fürchterliche Strafe und Isolation, weil ihre sogenannten weltlichen Kontakte, auch die zu Freunden und Bekannten, zuvor weniger wurden und faktisch nur noch beim Missionieren stattfanden.“
Was für viele zu einer harmlosen Party gehört, kann für die Zeugen Jehovas häufig bereits Götzendienst sein. Geburtstag zu feiern sei Selbstüberhöhung, sagt Gandow: „Da draußen ist eine von Satan beherrschte Welt, nur die Brüder und Schwestern sind in der Wahrheit. Kein Wunder, dass Betroffene versuchen, die Aufhebung des Gemeinschaftsentzugs durch Wohlverhalten zu erreichen.“
Reuevolle Rückkehr
Auch die Tochter von Maria M. kehrte reuevoll zu den Zeugen zurück. Ihre Mutter hingegen ging nur noch unregelmäßig zu den Versammlungen, grübelte viel, schlief schlecht und erklärte schließlich, dass sie kein Zeuge Jehovas mehr sein wolle. Ihr Mann folgte ihr wenig später.
Ihre Kinder hielten sich an die Gesetze der Gemeinschaft: Brachen den Kontakt zu ihren Eltern ab, erzählt Maria M., besuchten den Vater nicht einmal, als dieser schwer krank war. Deshalb engagiert sich Maria M. bei der deutschlandweit aktiven Selbsthilfegruppe „Seelnot“. Deshalb verteilt sie Flyer, die darauf hinweisen, dass der „Gemeinschaftsentzug“ die Grund- und Menschenrechte massiv verletze. „Jehovas Zeugen bestrafen durch den Kontaktentzug zu Familienangehörigen“, steht im Flyer.
Der Präsidiumssprecher der Zeugen Jehovas in Deutschland, Werner Rudtke, weist die im Flyer erhobenen Vorwürfe zurück. „Wenn es um minderjährige Kinder geht, würden wir nie gegen die in der Bibel vorgeschriebenen Werte der Familie verstoßen“, sagt er. „Wenn allerdings ein erwachsener Mensch schriftlich seinen Austritt erklärt, dann heißt das auch, dass er sich von unserem Lebensweg, unserer Lebensauffassung, distanziert. Da kann es schon sein, dass sich das Verhältnis zu ihm abkühlt.“
Die meisten Menschen würden ohnehin austreten, „um damit einer Zurechtweisung zuvorzukommen, weil sie biblische Gesetze übertreten“, sagt Rudtke. Bei solchen Vergehen – dazu zählen auch außereheliche oder homosexuelle Kontakte – kann der Betreffende tatsächlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. „Aber nur wenn und solange er nicht bereut.“ Dass Mitglieder mitunter unterschiedlich mit Ausgeschlossenen umgehen, kann Rudtke nicht ausschließen. Aber noch kein Gericht habe den Zeugen Jehovas Verletzungen der Menschenrechte nachweisen können, sagt er.
Dogmatismus und Dämonisierung
Doch für den ehemaligen Sektenbeauftragten Thomas Gandow sind die Zeugen Jehovas eine „klar autoritäre Sekte“. Und der Psychologe Michael Utsch, der sich als Referent der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin auch wissenschaftlich mit der Glaubensgemeinschaft beschäftigt, warnt ebenfalls vor ihnen: „Die Zeugen Jehovas werden oft unterschätzt. Man hält sie für harmlos und ein wenig antiquiert, wenn sie da vor dem Supermarkt ihre Zeitschrift verteilen. Dabei sind sie eine von der Zentrale in Brooklyn straff gesteuerte Organisation, die massiv expandiert.“
Vor allem in Osteuropa und Afrika, aber auch unter Migranten in Deutschland werden derzeit weitere Mitglieder geworben, sagt Michael M. Drebing. Der Unternehmer wurde in die Zeugen Jehovas hineingeboren und litt als Kind, erzählt er, sehr unter dogmatischer Erziehung und prügelnden Eltern. Sobald er sein erstes Geld verdiente, verließ er die Zeugen und gründete vor einigen Jahren eine Selbsthilfegruppe für Aussteiger in Berlin. Mehr als zwei Dutzend Betroffene hat er betreut, mehrere hundert, schätzt er, sind deutschlandweit betroffen.
Auch Erika P. (Name geändert) engagiert sich bei „Seelnot“. Ihre Schwester war bei den Zeugen Jehovas und starb, weil sie eine notwendige Bluttransfusion ablehnte. Erika P. möchte vor allem mehr Aufklärung – ein Ziel, das auch Michael Utsch unterstützt. „Es fehlen kritische Informationen über die Zeugen“, sagt er. „Da sie rigide jeden interreligiösen Dialog ablehnen, polarisieren sie stark. Das kann so weit führen, dass der Kontakt zu Ungläubigen dämonisiert wird.“ Maria M. kennt das nur zu gut. Ihr Sohn habe sie einmal mit Satan verglichen, erzählt sie. Selbst die Tochter, die sich damals das Leben nehmen wollte, sei gnadenlos: „Sie hat, seit wir die Zeugen verlassen haben, mehrere Kinder geboren. Wir haben keines im Arm halten oder auch nur sehen dürfen.“
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