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Blick über die Abraumhalden im Braunkohletagebau Welzow
© dpa

Braunkohle in Brandenburg: Wenn der Tagebau die Heimat zerfrisst

Günther Bartusch ist 84, er lebt schon immer hier und wurde bereits verdrängt. Jetzt rückt der Tagebau Welzow-Süd wieder näher. Bald wird der Bagger sein Dorf zerstören.

Seine Daumen kreiseln in der verschränkten Hand. Günther Bartusch blickt vor sich aufs Feld, wo hundert Meter entfernt ein Reh frisst, vor ihm Schafgarbe und Hahnenfuß blühen und nichts als eine Senke von der Vergangenheit des Mannes mit der schlohweißen Bürstenfrisur zeugt. Manchmal kommt er noch hierher, wenn er Butterpilze im Kiefernwald nebenan sucht; dann kratzt sein VW-Golf mit der Unterseite über die Buckel des Schotterwegs und hält am Feld, wo bis vor wenigen Jahren noch sein Haus stand.

Hier war er aufgewachsen, hatte als Junge den Milchwagen auf dem Weg nach Hause gezogen, die Pfosten gezählt, bis er ankam. Das Haus hatten seine Eltern gebaut. Nach dem Krieg lebte er hier mit seiner Frau, hier hatte er seinen Sohn aufwachsen sehen, auch seinen Enkel. Der 84-Jährige bekommt einen glasigen Blick. Dann reißt ihn das Piepen eines Hebearms aus den Gedanken. Ein Lkw wirbelt auf dem Schotterweg neben Bartusch Staub auf. Er ist unterwegs zum Tagebau Welzow-Süd, der sich hinter den Erdhügeln kilometerweit aufspannt.

Und nach dem Willen von Vattenfall und dem Landeswirtschaftsministerium ausgebaut werden soll, um das Kraftwerk Schwarze Pumpe auf Jahrzehnte weiter mit Braunkohle zu versorgen. Drei Dörfer sollen dafür verschwinden, 800 Menschen umgesiedelt werden – unter ihnen ist Bartuschs neuer Wohnort Proschim, der südwestlich von Cottbus liegt. Jahrzehntelang hatte er mit dem drohenden Verlust seiner Heimat leben müssen und war einmal umgesiedelt worden. Jetzt also schon wieder. Dass er den Neubau verlassen muss, nagt an ihm. „Die Unruhe bleibt, bis der Bagger vor der Tür steht“, sagt Bartusch.

Massiver Protest gegen die Tagebaupläne

Welzow-Süd II ist zum Inbegriff des Kampfs um die Zukunft der Braunkohle in Deutschland geworden. Anders als bei früheren Umsiedlungen hat es hier massive Proteste gegen die Tagebaupläne gegeben, vor allem durch die Einwohner des Örtchens Proschim. Sie sehen nicht ein, warum in Zeiten der Energiewende ihr Dorf noch für einen Braunkohletagebau verschwinden soll, zumal das Land Brandenburg seinen Energiebedarf jetzt schon zu drei Vierteln durch Ökoeenergien deckt und massiv Strom exportiert.

Und warum ausgerechnet Proschim verschwinden soll, das seinen Energiebedarf durch Sonnenkollektoren und eine Biogasanlage deckt. Mehr als 120 000 Einwendungen waren gegen den Entwurf des Braunkohleplans eingegangen – vergeblich. Die Landesregierung hat dem Braunkohleentwicklungsplan am Dienstag zugestimmt. Die Landesbehörden begründen ihre Pläne vor allem mit den Arbeitsplätzen, die Vattenfall in der strukturschwachen Region schafft.

Wer verstehen will, warum die eine Seite so verbissen an der Kohle festhält und die andere am liebsten sofort die Förderbänder anhalten will, wer verstehen will, welches Leid die Braunkohle den Betroffenen zufügt, während viele nicht ohne den dreckigen Energieträger leben wollen, der muss sich in den VW-Golf von Günther Bartusch setzen und mit ihm durch das mit Seen und Tagebauen zerklüftete Land fahren. Durchs Braunkohleland.

Das Wasser schmeckt nach Blut

Es ist ein unwirtlicher Landstrich, durch den Bartusch fährt. Straßen brechen auf einmal ab oder stoppen vor einem See. Dann wieder fährt der 84-Jährige durch Geisterdörfer, die längst verlassen sind, an Ruinen vorbei, aus denen Gestrüpp wächst. Schließlich stoppt er an einem ehemaligen Tagebau, aus dem ein See gemacht wurde, wo Jetskis parken und ein Schild für „DDR-Eis“ wirbt. Baden darf man in dem idyllischen See allerdings nicht, er ist verockert: das eisenhaltige Wasser schmeckt nach Blut. Sätze wie „hier konnte man beim letzten Mal noch durchfahren“ oder „das war beim letzten Mal noch nicht da“, hört man an dem Sommertag von Bartusch immer wieder. Oder den Satzfetzen: „Diese Bande!“

Jahrzehntelang ging das so: Die Lausitzer lebten von der Braunkohle, mussten dafür aber regelmäßig ihre Heimat aufgeben. Wie Spielsteine wurden Dörfer auf der Landkarte umgesetzt, soziale Beziehungen rissen auseinander; mit den Backsteinhäusern, die verschwanden, verloren auch die Erinnerungen, die Geschichten ihr Gerüst. So war es auch bei Günther Bartusch: Er hat im Bergbau als Schlosser gearbeitet, der Tagebau hat ihn ernährt und Arbeit gebracht; er hat ihm aber auch, so sieht er es, das Wertvollste in seinem Leben genommen.

Das Surren der Förderbänder klingt wie eine Drohung

Um halb zwölf, pünktlich für das Mittagessen, biegt er in die gepflasterte Einfahrt vor seinem Haus ein, ein Neubau am Ende eines Asphaltweges, eingerahmt von Wald und Feld. Nachts hört er das Surren der Förderbänder – wie eine Drohung wirkt das, seit klar ist, dass Vattenfall auch unter Proschim nach Braunkohle baggern will.

Im ersten Stock, wo er seine Wohnung hat, zieht er aus dem Bücherregal einen Band nach dem anderen, „Verschwundene Dörfer“, „Bergbau-Umsiedler“, „Abschied ohne Wiederkehr“ oder „Erinnerungen an die verschwundene Heimat“. Während man mit den Büchern beschäftigt ist, werkelt Bartusch in der Küche.

Dort stellt er 20 Minuten später einen Teller mit Eisbein auf den Tisch. Während sich der Kartoffelbrei in der Soße auflöst, erzählt Bartusch, wie er kurz vor der Wende sein Dorf Haidemühl, das Nachbardorf von Proschim, schon vor der Wende verlassen sollte – weil dort nach Braunkohle gebaggert werden sollte. Die Familie hatte schon begonnen, Bücher und Geschirr einzupacken, die ersten Bewohner zogen aus ihren Häusern aus – doch die Wende stoppte alle Pläne. Erst nach der Jahrtausendwende wurde der Plan wieder aus der Schublade geholt. Nun hieß es doch: Das Dorf verschwindet.

Durch das Dorf geht ein Riss

Während die Familie ihre letzten Tage im Haus verbringt, wird schon das Gartentor abmontiert und das Dach abgedeckt. Seine Frau hilft Bartusch das Haus auszuräumen, Kiste für Kiste. Sie sagt ihm: Sie will hier nicht weg. Als Kind hatte sie aus Pommern fliehen müssen, das hat sie geprägt. Der Umzug setzt ihr zu, sie wird krank. Eines Tages kommt Bartusch nach Hause und findet einen Zettel, auf dem steht, dass seine Frau im Krankenhaus sei. Acht Tage nach dem Umzug ins zwei Kilometer entfernte Proschim stirbt sie an Krebs.

Bartusch wird durch seine Familie aufgefangen, seinen Sohn, seine Schwiegertochter und seinen Enkel, die alle auf dem gleichen Grundstück wohnen, vor allem aber durch seinen Nachbarn, bei dem er als eine Art Hausmeister hilft und der wiederum sich als Arzt um ihn kümmert. Bei der Nachmittagsrunde ist er mit dabei. Während er in Bartuschs VW-Golf durch Proschim fährt, mit Bartusch auf dem Rücksitz, deutet er mit dem Finger von einem Haus zum nächsten: „Verräter“, „will bleiben", „mein Vater – will bleiben“, „meine Tante – Verräter“.

Durch das Dorf geht ein Riss, manche wollen umziehen, in neue, sanierte Häuser, die ihnen von Vattenfall bezahlt werden, andere wollen ihre Heimat nicht verlieren. Oder nicht ein zweites Mal verlieren, wie im Fall von Günther Bartusch.

Die Braunkohle hat ihm die Gesundheit verdorben

Als letzte Station hat sich Günther Bartusch die Brikettfabrik Knappenrode ausgesucht. Das Areal steht unter Denkmalschutz und ist heute ein Museum. Aber die Brikettfabrik ist der von Haidemühl ganz ähnlich, in der Bartusch gearbeitet hatte. Im Backsteinbau empfängt einen staubig-kühle Luft, Bartusch führt über die Stahltreppen an den Öfen entlang, den rostigen Kesseln, Pressen, Hammermühlen, Rädern, den kindsgroßen Eisenzangen, Trafos und Thermometern.

Bartusch erzählt vom Lärm, dem er jeden Tag als Schlosser ausgesetzt war. Im Ofenhaus herrschten oft Lärmpegel von bis zu 94 Dezibel – so laut wie das Schlagen eines Presslufthammers. Und an den offenen Röhrentrocknern wurde es im Sommer bis zu 70 Grad heiß – als Entschädigung bekamen die Arbeiter „kostenlos“ Limonade und Wasser gereicht, heißt es auf einer Schautafel. Bartusch zeigt mit dem Finger zwischen die Stahlblätter eines Tellertrockners, in ganz ähnliche hatte er hineinkriechen müssen, in die Hitze, wenn es etwas zu reparieren gab. Oft bekam er vor lauter Kohlestaub die Augen gar nicht mehr auf, erzählt er. Und abends, wenn er nach Hause kam, spuckte er schwarz aus. Obendrein ruinierte ihm das Asbest die Lunge.

Die Braunkohle hat ihm die Gesundheit verdorben, das Heimatdorf genommen, die Ruhe geraubt. Auch er hat gegen Welzow-Süd II unterschrieben. Aber als Bartusch aus dem Backsteingebäude tritt und von seinem letzten Arbeitstag erzählt, als um ein Uhr mittags der Pfiff kam, zittert seine Stimme und ihm kommen die Tränen, genau wie damals.

Benjamin von Brackel[Proschim]

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