Berlin, deine Busse: Welche BVG-Linie ist die schönste im ganzen Land?
Nicht so markant wie die U-, nicht so launisch wie die S-Bahn: In der Berichterstattung über die öffentlichen Verkehrsmittel kommen Berlins Busse gern zu kurz. Bis jetzt! An dieser Stelle huldigt die Redaktion ihren Schicksalslinien
Buslinie M49
49er, alte Liebe… Darf ich das so sagen? Wir kennen uns, ich sehe dich öfter als meine Mutter. Lass mich dich vorstellen: Du rollst über die Heerstraße von Staaken zum Zoo. Früher warst du schöner, ein Doppeldecker, da haben wir oben hinten gesessen. Bei dir konnten wir Hausaufgaben machen, weil du auf 15 000 Metern nur zwei Mal eine Kurve fährst und somit die Hausaufgaben nie verwackelt waren.
Bist auch heute oft voll, aber das waren wir früher auch, wenn wir „aus der Stadt“ kamen, wie wir Spandauer sagen. Hast uns zu Hertha gebracht, als für dich noch Schluss war am Grenzkontrollpunkt Staaken.
Bist nie eine Berühmtheit gewesen, nimmst nie Szeneleute mit und auch keine Touristen, dabei gibt es so viel zu sehen: die Wilmersdorfer Straße (die erste Fußgängerzone Berlins), den „Stutti“, Didis Wühlmäuse, die Havel, acht Tankstellen, bis zu neun Fahrspuren und trotzdem jeden Tag Stau.
Hast dich nie verändert, nur das „M“ kam hinzu. Naja, wir sehen uns, schon Montag früh wieder. Ich bring’ Brötchen mit. André Görke
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie 222 - der Seniorenexpress nach Alt-Lübars
Stricknadeln klappern, der Blick fällt auf meliertes Haupthaar: Sitze ich im Bus oder doch beim Kaffeekränzchen?
Die Buslinie 222, die vom Havelidyll in Tegelort bis zum Dorfanger in Alt-Lübars fährt, darf den Titel Seniorenexpress mit Stolz tragen! Von der alten Kämpferin, die beim Einsteigen mit ihren Einkaufskarren das junge Gemüse aus dem Weg räumt, bis zum gesitteten Damenkränzchen ist alles dabei. Gesundheitsschuhe, kurze Haarschnitte in Weiß und Grau – so präsentiert man sich im 222er. Ausnahmen bestätigen die Regel: Ein junges Mädchen steht mit Reitstiefeln und Gerte im Ausgangsbereich. Zu Schulbeginn und -schluss stürmen dann Horden von Schülern die Linie. Im Nu ist der 222er ein Mehrgenerationen-Doppeldecker. Da macht ein Junge mit Sporttasche auch mal Platz für eine ältere Dame. Die dankt’s mit einem Lächeln. An dieser Stelle sei aber gewarnt: Wer sich nicht daran hält, dass die alte Frage „Wann steigen Sie aus?“ über Fenster- oder Gangplatz entscheidet, wird’s im 222er schwer haben. Carmen Schucker
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie 109 - Wie eine Stopfgans durch die City West
Da stehen sie, am S-Bahnhof Charlottenburg und wollen zum Flughafen Tegel fahren. Wer dünn und robust ist, nur mit Handgepäck, kann dies mit dem 109er sogar zur Hauptverkehrszeit versuchen. Wenn der Bus nicht gerade ausfällt oder so aufgefüllt ist, dass der Fahrer sich weigert, neue Passagiere aufzunehmen. „Hier jeht nischt mea, det seh’n Se doch!“
Es blieb der Bus auch schon zehn Minuten an der Haltestelle stehen, weil verzweifelte Menschen durch die Hintertür hineindrängten. Ist streng verboten.
Schon am Startpunkt, dem Zoologischen Garten, kommt er ungern pünktlich. Durch die City-West zuckelnd wird er zur Stopfgans. Auch in der Gegenrichtung, von Tegel über die Stadtautobahn am Schloss Charlottenburg vorbei, ist der Fahrplan maximal grobe Richtschnur. Manchmal kommt kein Bus, dann zwei hintereinander. Die frisch eingeflogenen Touris haben es ja nicht eilig und die Rentner auch nicht, die das Bild mitbestimmen. Die gehen in der Wilmersdorfer Straße erst mal einen Kaffee trinken. Ulrich Zawatka-Gerlach
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie X69 - Solide am Stadtrand
Touristen gibt’s hier nicht. Dabei könnten sie im X69er den wahren Osten erleben. Ohne Fernsehturm, aber sonst ziemlich komplett. Erst längs durch Marzahn, wo die riesigen Plattenbauten allmählich kleiner werden und Platz fürs erste Highlight lassen: Die Gärten der Welt. Weiter durch Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf. Durchschnittsdeutschland: Solide Häuser, solide Zäune, solide CDU-Wahlergebnisse. In Köpenick folgt verlärmte Hauptstraßentristesse, bevor es weit draußen am Rand der großen Stadt in den Wald geht und die Haltestellen heißen wie im Märchenbuch. Nachtheide, Rübezahl, Müggelseeperle. Rechts Müggelberge, Teufelssee und Dahme, links der Große Müggelsee, dazwischen nur Bäume. Und Tempo 70. Meist sind es sogenannte „Schlenkis“, die mit wippendem Hinterteil gen Müggelheim brausen. Dort ein Dorfanger mit Kirche, eine Wendeschleife mit Strandzugang. Immer noch Berlin. Als Verlängerung gibt's noch einen Ast zum Kleinen Müggelsee. Pilzkorb und Badesachen sind mitzubringen. Stefan Jacobs
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie 171 - Oma rennt, Kind rennt, ich renne
Bei vielen Dingen im Leben kommt es auf den richtigen Zeitpunkt an. Wann der ist, entscheidet jeder individuell. Ob er etwa zwei Minuten eher da sein möchte oder lieber fünf. Was mich angeht: fünf. Zeitpunkte waren für mich noch selten wichtig, seit kurzem aber sind sie es. Ich kann es mir nicht leisten, einen zu verpassen, denn bis der nächste kommt, das dauert. Laut Plan an meiner Haltestelle alle 20 Minuten. Es wird Winter, und ich fahre wieder 171, Richtung Hermannplatz. Wenn ich ihn kriege. 171 ist so verflucht pünktlich, überpünktlich, zu früh, dass eines ganz sicher ist: Kommt er nicht, ist er schon weg. Das Schulkind rennt, die türkische Großmutter rennt, ich renne. Be there or be square. Es ist die Entdeckung der Schnelligkeit in den stillen Straßen Treptow-Neuköllns, der Eiligkeit allemal. Die sehr freundlichen Fahrer der Linie 171 wollte ich schon immer mal fragen, wie genau sie zustande kommt, ihre Vielzupünktlichkeit. Ich warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt. Katja Reimann
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie 200 - Vorbei am morgendlichen Dauerstau
Doppelt so toll wie der olle (und volle) Hunderter bist Du, lieber 200er, mindestens. Bei dir gibt's noch Plätze, ganz oben, ganz vorne, zumindest wenn man kurz vorm Alex am Volkspark Friedrichshain einsteigt.
Du hast schon zehn Stationen absolviert, wenn dein kleiner, exaltierter Bruder, der Touristenliebling 100, sich im Schatten des Fernsehturms bequemt, auch mal den Dienst anzutreten. Unter den Linden fahrt ihr von hier aus beide entlang, dann trennen sich die Wege, und vom Busfenster aus den Potsdamer Platz und dazu die Philharmonie zu bestaunen (200), das ist doch genauso gut wie der Blick auf den Reichstag (100). Wenn nicht besser. Oben aber sitze ich selten, nur wenn Besuch da ist, dafür fast jeden Tag unten. Und im Alltag, da bist du fast so gut wie die Tram - kein Vergleich mit anderen Bussen! Für dich nämlich gibt's jede Menge Busspuren, am morgendlichen Dauerstau saust Du vorbei. Nach dem Alex zwar nicht mehr, da musst Du Dich quälen. Aber dann bin ich schon ausgestiegen. Karin Christmann
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie M41 - Rollender Stress
Immer nur schimpfen ist ja auch nicht fair. Der M41er hat's halt schwer. Schließlich fährt er vom Hauptbahnhof in den bevölkerungsreichsten Berliner Stadtteil, Neukölln. Er selbst ist meist nur ein Gelenkbus, nix mit Doppeldecker. Klar, dass er sich zu Stoßzeiten in rollenden Stress verwandelt. Besonders peinsam ist es im Winter, wenn der Zehn-Minuten-Takt zur aberwitzigen Utopie wird. Zur Berlinale-Zeit kann man auf dem Weg Richtung Potsdamer Platz endlose Variationen des "Ich komme später, hänge in diesem Bus fest"-Telefonats hören. Wie hält man diesen Irrsinn aus? Arbeite an deinem Zen. Denke daran, dass es in Städten wie Mumbai noch viel chaotischer zugeht. Und erinnere dich an die vielen Male, die dich der M41er schon ans Ziel gebracht hat und du zuvor an deiner Haltestelle sogar die Auswahl zwischen drei verschiedenen Modellen hattest. Weil sich im Stadtgedrängel auch Busse, jeder für sich um Pünktlichkeit bemüht, gern mal nah kommen. Für das alles von dieser Stelle mal ein herzliches Danke! Nadine Lange
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie M29 - Die Stationen eines typischen Berliner Lebens
Einsteigen! Der M29er durchläuft in der knappen Stunde seiner Fahrzeit die typischen Stationen eines Berliner Lebens: Einfache Herkunft am Hermannplatz, unauffällige Kindheit in Pannierstraße und Reichenberger Kiez. Dann eine kurze, doch heftige Partyzeit mit Drogen, Alk und lauter Musik zwischen Görli und Oranienplatz. Ruhiges Fahrwasser im Zeitungsviertel: Springer, "Taz" und Tagesspiegel. Danach der Schwenk zum Landwehrkanal, Potsdamer Brücke, Stabi West: Doktorarbeit fertigschreiben! Manche gehen in die Politik, Parteizentrale der CDU, oder lieber gleich ins KaDeWe am Wittenbergplatz. Den Ku'damm hinauf: Man hat's geschafft! Ab Adenauerplatz beginnt der Lebensabend, der sich über Halensee hinzieht bis zum Roseneck. Die alten Damen trinken Kaffee in der Konditorei. Dass es bei alledem gern verzögert und unregelmäßig zugeht - tja, das Leben verläuft nicht nach Fahrplan. Doch manchmal wünscht man, es hörte nie auf. Nochmal in umgekehrter Reihenfolge? Gleich. Der Fahrer raucht schnell eine. Johannes Groschupf
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie 240 - Der pünktliche Chauffeur
Der 240er hält am Ostbahnhof, aber vor allem hält er direkt vor meiner Tür. Wie mein persönlicher Chauffeur kutschiert der Busfahrer mich von allen Reisen, mit schweren Koffern und Heimweh sicher zurück. Wer da noch mitfährt? Ich weiß es nicht, ich sitze direkt hinter dem Fahrer und hänge Gedanken nach. Leider ist der 240er extrem pünktlich. Immer 9 Uhr 13, 23, 33, 43, 53 fährt mein Chauffeur den Wagen vor. In meinem Haus gibt es ein wunderbares französisches Café. "Schnell, einen Kaffee, schwarz, wie immer, comme d'habitude, der Bus kommt gleich." Ich trinke, lese, da schiebt sich das gelbe Gefährt auch schon hinter meine Zeitung. Ich lasse die Tasse stehen, sprinte los, die Türen schließen sich vor meiner Nase. Er ist eben nicht nur mein Chauffeur - und Pünktlichkeit erlangt man wohl durch Härte. Ich fluche und bestelle ein Stück Mirabellentarte. Jetzt bleiben mir ja wieder zehn Minuten. Als der nächste Bus hält, probiere ich gerade den Flan. Comme d'habitude, sagt der Besitzer. Julia Prosinger
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie X9 - Der Flughafen-Abholer
Okay, ich könnte jetzt ein Taxi nehmen. Aber irgendwie mag ich das, wenn ich gerade gelandet bin aus MUC oder CDG oder JFK, zusammen rumzustehen mit den Rollkoffermenschen im Eindecker X9 Richtung ZOO, gerade so, als ginge es gleich wieder aufs Flugfeld, der nächsten Reise entgegen. Und zuzugucken, wie der Fahrer am TXL das hineindrängende Menschengewühl zu ordnen versucht und dann als letzter Zusteiger im überfüllten Bus - "Ick fass'et nich, ick fass'et nich!" - sogar über seine Zahltheke hechten muss, um krass korrekt auf dem Bock zu landen, so heißt das doch unter Großfahrzeugbewegern, Bock. Und Anfahrt. Abfahrt. Heimfahrt denn doch über namenlose Trassen unterm Himmelgrau und letzte Ausfahrt vor der Stadtautobahn. Dann bin ich draußen, da leuchtet schon das große U vorm Jakob-Kaiser-Platz, tschüss X9, tschüss Rollkofferleute mit Bock auf Berlin, tschüss FCO und ORD. Und hallo UUU-Bahn, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Jan Schulz-Ojala
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie 140 - Shuttle-Service zum zweiten Wohnzimmer
Tagsüber ist der 140er eine ziemlich gewöhnliche Buslinie, die sich unfassbar langsam durch Kreuzberger Seitenstraßen quält, bis sie endlich am Ostbahnhof ankommt. Abends jedoch verwandelt sie sich für mich in den Möbel-Olfe-Express. Die Möbel Olfe am Kottbusser Tor, das muss man dazu wissen, ist die wahrscheinlich aufregendste und sicherlich queerste Trinkhalle der Stadt und des Universums. Finde ich zumindest. Weitere Details erspare ich mir, es ist schon voll genug dort. Für meine Freund_innen und mich ist die Olfe so etwas wie unser zweites Wohnzimmer. Die Bushaltestelle am Kotti ist hundert Meter von der Olfe entfernt, genauso wie es von meiner Haustür hundert Meter bis zur nächsten Station sind. Wenn alles gut geht, dauert es genau sieben Minuten vom heimatlichen Sofa bis zu Barhocker und Bier. Ein quasi-exklusiver Shuttle-Service vom ersten zum zweiten Wohnzimmer - mehr kann man doch vom öffentlichen Nahverkehr echt nicht erwarten. Tilmann Warnecke
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".
Buslinie M85 - Schnell weg vom Hauptbahnhof
Früher war's noch besser. Da hielt er direkt hinterm Hauptbahnhof auf der Invalidenstraße und dann gleich nochmal vorne, schräg-links am Washingtonplatz. "Latscht einfach irgendwo aus dem Hauptbahnhof zur nächsten Haltestelle, da hält unser Bus", konnte man Gästen ganz weltläufig sagen. "Und setzt euch oben-links-vorn, da seht ihr gleich was von der Stadt!" Seit einiger Zeit startet der Bus von einem peripheren Halteplatz am Meininger-Hotel. Was er auf dem Weg vom Hauptbahnhof zu unserer Wohnung in der Bülowstraße en passant bietet, ist trotzdem toll - es muss nicht immer der in jedem Reiseführer verzeichnete 100er-Bus sein: Kanzleramt, Reichstag, Brandenburger Tor, Holocaust-Mahnmal, Potsdamer Platz, Philharmonie. Und dann: mitten rein in den Bauch der Stadt! Potse, Wintergarten, LSD, usw... Man könnte ewig so fahren - bis Steglitz, bis Lichterfelde gar. Allein: Das Essen steht auf dem Tisch. Und der, der grad erst am Hauptbahnhof angekommen ist, hat ja schon viel von der Stadt gesehen. Johannes Schneider
Diese Zusammenstellung erschien erstmals im Herbst 2013 im Ressort "Mehr Berlin".