Zwischen Realität und Internet: Warum wir lernen müssen, online endlich wir selbst zu sein.
Online können wir sein, wer wir wollen. Aber das macht uns offline zu Angsthasen, die sich nichts mehr trauen. Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit im Netz
Soziale Netzwerke sind der ideale Auslöser für Komplexe. Bei Instagram sehe ich Guten-Morgen-Selfies von Mädchen, die wie gerade wachgeküsste Disneyprinzessinnen aussehen und bei Facebook lese ich welche „geile Party“ ich mal wieder verpasst habe. Beim Anblick von Fotos mit über 200 Likes beschleicht mich das Gefühl, dass ich wohl irgendetwas falsch gemacht habe im Umgang mit sozialen Kontakten.
Der Perfektionismus im Internet ist ungesund
Kehre ich zurück in die Realität, legt sich das ziemlich schnell wieder. Schon morgens in der Straßenbahn erkenne ich, dass nicht nur ich kurz nach dem Aufwachen eher Ähnlichkeit mit Rumpelstilzchen zeige als mit Dornröschen und spätestens wenn meine Freunde mir berichten, dass die besagte Party in Wahrheit öde war, sind auch die 235 Likes vergessen.
Trotzdem ist der Perfektionismus, dem wir hinterher hecheln, ungesund. Bei Facebook und Co. zeigt man nur sein akribisch bearbeitetes Selbst und sieht im gleichen Atemzug auch nur die verzerrte Idealversion des Gegenübers. Soziale Netzwerke sind eine Bühne, ein Wettbewerb: wer hat das aufregendste Leben, die meisten Freunde, die teuersten Klamotten, das schönste Lächeln? Schöne heile Welt, denke ich, während ich all die glücklichen Urlaubsfotos und Liebesbekundungen sehe.
Das echte Leben ist spontan und unberechenbar
Nur schade, dass das mit der Selbstdarstellung im echten Leben eben nicht ganz so einfach ist. Müdigkeit und schlechte Laune lassen sich nicht wegretuschieren. Auch vor dem zufälligen Treffen auf der Straße kann man sich nicht stundenlang überlegen, wie man gewitzt reagiert. Das Leben außerhalb des Internets ist spontan, unberechenbar und dadurch eben vor allem eines: echt. Da fällt man auch mal in aller Öffentlichkeit hin, aber lernt dabei, selbstbewusst wieder aufzustehen.
Echt oder virtuell. Wer sind wir denn nun?
Heutzutage trägt jeder ein Bündel von Identitäten mit sich herum. Das so bescheiden und zurückhaltend wirkende Mädchen bauscht sich auf Facebook zu einem Modepüppchen auf, der charmante Kerl wird zum pumpenden Macker. Wer seid ihr denn nun? Lerne ich jemanden kennen, dessen Profil ich zuvor schon einmal gesehen habe, fällt es mir schwer, sie unvoreingenommen einzuschätzen. Schließlich weiß ich dann schon, wie beliebt sie (online) ist, was für einen schlechten Musikgeschmack sie hat und dass ihr „Daddy“ ihr ein Auto zum Geburtstag geschenkt hat. Ich kenne die Person nicht, aber Dank all der Informationen kann ich mir ein mit Vorurteilen behaftetes Bild von ihr machen.
Online trauen wir uns alles. Offline sind wir Angsthasen
Noch breiter wird der Graben zwischen virtueller Welt und Realität, wenn es um die Kommunikation geht. Wir chatten stundenlang über intimste Themen, während bei realen Begegnungen die Unterhaltung schnell brach liegt. Menschen, die sonst kaum ein Wort herausbringen, setzen plötzlich großmäulige Kommentare unter fremde Fotos. Es werden sich munter Herzchen hin und her geschrieben, doch auf der Straße scheuten wir uns vor einem einfachen Gruß.
Im Internet ist alles so viel einfacher. Wir können sein, wer wir wollen, wie wir wollen. Doch gerade dadurch, dass das online so einfach ist, wächst die Unsicherheit und Angst vor der normalen Interaktion: Angst vor dem, was nicht planbar, sondern spontan ist, Angst vor dem Vergleich im echten Leben.
Wir sind viel mehr als unser Instagram-Profil, zeigen wir es auch!
Während wir uns der eigenen Fehler bewusst sind, sehen wir nur die angebliche Fehlerlosigkeit der anderen im Virtuellen und zweifeln an uns. Dabei ist es doch so schön, dass wir alle keine gelackten Idealversionen sind, sondern voller Macken. Dass wir uns nicht über unser Aussehen, ein paar Interessen und Erlebnisse definieren, sondern einen Charakter besitzen. Dass wir Fehler haben und es trotzdem Menschen gibt, die uns mögen, so wie wir sind und bei denen wir vor allem eins sein können: wir selbst.
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Marlene Resch
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