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Gefährliche Biege: An der Kreuzung Frankfurter Tor gab es in diesem Jahr die meisten Unfälle mit Motorrädern.
© Kai-Uwe Heinrich

Tödliche Verkehrsunfälle: Warum Motorradfahrer in Berlin gefährlich leben

Auf der Warschauer Straße verunglückte erst am Donnerstag wieder ein Motorradfahrer tödlich – es ist der achte in diesem Jahr. Biker leben in Berlin gefährlich, doch sie sind meistens nicht schuld daran. Ein Straßenreport.

Er wollte offenbar nur einer Fußgängerin ausweichen, die auf die Straße lief – und bezahlte mit seinem Leben: In der Nacht zu Donnerstag starb ein 25-jähriger Berliner auf der Warschauer Straße, direkt hinter der belebten Warschauer Brücke. Der junge Mann war bereits der achte Motorradfahrer, der in diesem Jahr in Berlin tödlich verunglückte. Ein trauriger Rekord. Nur zwei der acht tödlichen Unfälle wurden von den Bikern verursacht. 2013 kamen vier Biker in Berlin ums Leben.

Am Donnerstagmorgen schwebt ein Polizeihelikopter über der Unfallstelle, um Luftaufnahmen zu machen. Der Verkehrsermittlungsdienst hat gelbe Farbmarkierungen auf der Straße hinterlassen; sie helfen bei der Rekonstruktion des Unfalls. Nach derzeitigen Erkenntnissen war der junge Mann gegen 2.30 Uhr mit seinem Yamaha-Motorrad auf dem Weg Richtung Frankfurter Tor, als er die Kontrolle über sein Gefährt verlor. Er prallte gegen ein Schutzgitter an der Mittelinsel, auf der sich eine Haltestelle der Straßenbahnlinie M10 befindet. Das Motorrad schlitterte 80 Meter über die Fahrbahn, bevor es zum Liegen kam. Als die Feuerwehr eintraf, war der 25-Jährige schon tot. Die Ermittlungsarbeiten dauerten bis in die Morgenstunden; erst um 8.20 Uhr wurde die gesperrte Fahrbahn für den Verkehr freigegeben. Die Polizei sucht Zeugen, die den Unfall gesehen haben.

Es ist der tägliche Wahnsinn auf den Straßen: Eine Frau telefoniert mit dem Handy, gestikuliert und fährt in ihrem SUV Zickzack über die Mittellinie. Ein Autofahrer blinkt rechts und fährt links. Ein anderer biegt in die Vorfahrtstraße ein, ohne den Verkehr zu beachten. Ein Fahrradfahrer fährt noch schnell bei Rot über die Kreuzung. Ein Autofahrer bremst abrupt ab. Ohne einen Blick über die Schulter zu werfen, fährt eine Frau aus der Parklücke. Vergangenen Montag zog ein Autofahrer in der Holzhauser Straße auf die andere Fahrspur und übersah das neben ihm fahrende Motorrad. Der 55-jährige Motorradfahrer starb noch am Unfallort.

Motorisiert auf zwei Rädern – auf dem Motorrad, Moped oder einem Roller fährt man in einer kaum beachteten, aber besonders gefährdeten Risikogruppe.

Erhöhte Aggressivität gegenüber Motorradfahrern

Drei Kradfahrer wurden getötet, weil Autofahrer unachtsam die Spur wechselten oder bei Rot fuhren. Zwei weitere Motorradfahrer starben in diesem Jahr durch unachtsam abbiegende Autofahrer. „Allein vier Motorradfahrer kamen in den letzten fünf Wochen in Berlin ums Leben“, sagt Thomas Wende, Leiter des Verkehrslagebildes beim Stab des Polizeipräsidenten. „Unter allen Risikogruppen bilden die Motorradfahrer die größte Gruppe, die Unfälle nicht selbst verschuldet“, sagt Wende. 57 Prozent sind fremdverschuldet, 43 Prozent selbst verschuldet. Bei den Radfahrern liegt die „Verursacherquote“ bei fast 50 Prozent, bei den Fußgängern bei 47 Prozent, die Quote bei den selbst verschuldeten Unfällen der Senioren liegt bei etwa 60 Prozent – und bei Unfällen mit Kindern bei 66 Prozent.

„Viele Autofahrer kennen ihre Blinker nicht mehr“, sagt Jörg Becker, Leiter Verkehr beim ADAC Berlin-Brandenburg. Das zwingt dahinterfahrende Motorradfahrer zu scharfen Bremsungen oder riskanten Ausweichmanövern. „Oft fehlt beim Autofahrer auch der Blick über die Schulter“, sagt Wende. Autofahrer würden nach schweren Unfällen mit Motorradfahrern oft sagen, sie hätten das Krad nicht gesehen.

Hinzu kommt, dass die Geschwindigkeiten der Bikes schon mal unterschätzt werden. Und besonders bei intensiver Sonneneinstrahlung sei die schmale Silhouette eines Zweirads kaum oder schlecht sichtbar. Wende und Becker rufen die Autofahrer zu mehr Umsicht auf. „Auf dem Roller oder dem Motorrad könnte ja auch die eigene Tochter, der eigene Sohn sitzen“, sagt Becker. Clemens Bober, Vorsitzender vom Ring Berliner Motorradclubs, registrierte in den letzten Jahren auch eine erhöhte Aggressivität auf Berliner Straßen gegenüber Motorradfahrern.

Die Ursachen für selbst verschuldete Unfälle bei Bikern können laut Industrie-Verband Motorrad unangepasste Geschwindigkeit sein, aber auch Spurrillen, Straßenbahngleise, schmieriger oder nasser Straßenbelag und plötzliche Bremsvorgänge. Der Biker-Pfarrer Bernd Schade machte in seiner langjährigen Arbeit mit Motorradfahrern die Erfahrung, dass „viele Fahrer Selbstkritik üben. Aber es gibt auch die Spinner, die rasen wollen. Und die erreicht man eben nicht“.

Viele Unfälle in Kreuzungsbereichen

Auch wenn die Polizei in den letzten 25 Jahren deutlich weniger schwere Unfälle registrierte: Die Zahl der Kraftradzulassungen und damit auch das Unfallrisiko steigen kontinuierlich. 2008 waren in Berlin rund 90.600 Krafträder ab einem Hubraum von 50 Kubikzentimetern unterwegs, 2013 waren bereits 102.066, und bis Ende Juni dieses Jahres waren 103.513 in Berlin registriert. Hinzu kommen noch Kleinkrafträder bis 50 Kubikzentimeter, die lediglich Versicherungszeichen führen müssen und nicht von der Zulassungsstelle erfasst sind. Auch die Pendler, die mit dem Bike täglich nach Berlin fahren, sind nicht mitgerechnet.

Klassische Unfallschwerpunkte mit Bikes gibt es nicht. „Unfälle sind Zufallsprodukte“, sagt Wende. Viele Unfälle mit Motorradfahrern würden in Kreuzungsbereichen erfolgen. An der Kreuzung Frankfurter Tor registrierte die Behörde im Vorjahr mit zwölf Fällen die meisten Unfälle, in die Motorradfahrer involviert waren. Zwölf Mal waren Biker in Unfälle auf dem Tempelhofer Damm verwickelt. Diverse Unfälle passierten auch in der Karl-Marx-Straße, Müllerstraße, Am Juliusturm und in der Landsberger Allee.

Fast täglich erlebt man gefährliche Situationen auf dem Mehringdamm, Höhe Tempelhofer Ufer. Autofahrer ziehen auf die Mittelspur, kaum jemand schaut nach hinten. Und sieht so nicht den Biker, der auf derselben Spur fährt.

Gottesdienst für tote Biker

Der Biker-Pfarrer

Bernd Schade ist seit 1998 der Landesbeauftragte für die kirchliche Arbeit mit Motorradfahrenden. Der 29-Jährige ist als „Biker-Pfarrer“ bekannt; er fährt auch selbst Motorrad und nutzt es als sein „Alltagsfahrzeug“. Schade betreibt Aufklärung auf Veranstaltungen und ist im Internet aktiv. Bei Einträgen von „wilden“ Bikern komme bei ihm schon mal der „Moralapostel“ durch, berichtet er.

Die Gedenkfahrt

1974 verunglückte ein Motorradfahrer tödlich auf dem Kurfürstendamm. Aus einem damaligen spontanen Gottesdienst mit einem Motorrad-Korso ist eine jährliche Mahn- und Gedenkfahrt geworden, die die Gruppe „Christ und Motorrad“ mit dem Ring Berliner Motorradclubs (RBMC) und der Arbeitsgemeinschaft christlicher Motorradfahrer (ACM) organisiert. Der 40. Korso mit Gottesdienst im Gedenken an tödlich verunglückte Biker findet am 14. September in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche statt.

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