Spandauer Schule: Vorfall mit Schreckschusspistole - Psychologen suchen nach Erklärungen
Ein Elfjähriger löste am Dienstag einen Polizeieinsatz in einer Grundschule aus. Psychologen versuchen nun, die Hintergründe aufzuklären.
Schulpsychologen sind am Mittwoch noch immer in der Carl-Schurz-Grundschule in der Hakenfelder Straße 34 in Spandau. Sie betreuen Schüler, die noch verarbeiten müssen, was am Dienstag passiert ist. Ein Elfjähriger, ein Flüchtling, hatte kurz vor Schulbeginn eine Waffe gezeigt. Eine Schreckschusswaffe, wie sich später herausstellte, ohne Munition. Aber die Bilder lösten einen stundenlangen Polizeieinsatz aus. Die Beamten suchten nach der Waffe, bis sie diese am Mittag gefunden hatten. Bei Eltern löste die Nachricht größte Besorgnis aus. Zufällig jährte sich vor wenigen Tagen die Schießerei in einer Realschule in Winnenden, wo ein 17-Jähriger 2009 an der Schule neun Schüler und eine Lehrerin tötete. Danach erschoss er auf der Flucht weitere Menschen.
Frühwarnsystem in Schulen
Grund zu Panik oder enormen Ängsten bei Eltern besteht trotzdem nicht. Es gibt in den Berliner Schulen ein funktionierendes Frühwarnsystem. Besonders verhaltensauffällige Schüler sollen frühzeitig Hilfsangebote erhalten. Der erste, wichtigste Teil des schulischen Frühwarnsystems sind die Lehrer. „Wir haben sehr aufmerksame Lehrkräfte“, sagt Matthias Siebert, Leiter des Fachbereichs Schulpsychologie am Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrum (SIBUZ) in Steglitz-Zehlendorf. „Und gerade bei Aggressionen gibt es im Schulsystem viele Hilfestellungen.“ Notfallpläne zum Beispiel. Zudem hätten sich viele Lehrer fortgebildet und wüssten, wie sie reagieren müssten.
Die Schulpsychologen sind ein wichtiger Teil dieses Frühwarnsystem. Sie sind für Lehrer eine Art Rettungsanker, wenn die mit einem schwierigen Fall konfrontiert sind. „Es gibt eine Einzelfallberatung durch uns, wenn es so einen Fall gibt“, sagt Siebert. Zudem bietet das System insgesamt viele Möglichkeiten zur Hilfe. Einzelunterricht, besondere Schulen mit Kleingruppen, in denen auf schwierige Schüler besonders eingegangen wird.
„Aggressives Verhalten ist oft ein Hilferuf“
Aber Dreh- und Angelpunkt sind die handelnden Personen, die den intensivsten Kontakt zu den Schülern haben. Den Lehrern. „Es hängt viel davon ab, ob jemandem etwas auffällt und wie er damit umgeht“, sagt Siebert. „Es ist wichtig, dass man einen guten Bezug zu den Schülern hat.“ Gibt es Anlass, sich Gedanken zu machen, dann empfiehlt der Schulpsychologe dringend, „den kollegialen Austausch“. Andere Pädagogen zu informieren und um Rat zu fragen, sei wichtig, bei Bedarf müssten dann aber auch die Schulleitung und die Eltern eingeschaltet werden. Mitunter ist es aber auch schon hilfreich, wenn sich ein älterer Schüler mit einem jüngeren Schüler unterhält, wenn bei dem Probleme erkennbar sind.
Probleme, das kann viel bedeuten. Jeder Schüler hat andere Sorgen, auch ein generelles Verhaltensmuster gibt es nicht. Die einen reagieren in ihrer Hilflosigkeit und Überforderung aggressiv, andere, vor allem Mädchen, ziehen sich eher zurück. „Aggressives Verhalten ist oft ein Hilferuf“, sagt Siebert. Schwieriger sei es oft, bei introvertierten Schülern Handlungsbedarf zu erkennen, „die fallen im Klassenverband ja erstmal nicht auf“, sagt Siebert.
Von einfachen Erklärungen rät der Schulpsychologe grundsätzlich ab. „Man sollte es gedanklich vermeiden, nur eine mögliche Ursache in den Blick zu nehmen.“ Oft wirkten mehrere Ursachen zusammen, wenn sich Symptome einer Verhaltensauffälligkeit zeigten. Und jeder Fall sei anders.
Nicht bekannt, ob er traumatisiert war
Die Flüchtlingskrise habe den eingeschränkten Blick verschärft. Als ab 2015 viele Menschen aus Bürgerkriegsgebieten kamen, „da gab es diese These, dass jeder Flüchtling traumatisiert ist", sagt Siebert. Als Erklärungsmuster sei das auch bequem gewesen. „Man hat damit die Verantwortung für die Überlegung abgegeben, ob es vielleicht andere Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten gab.“
Auch bei dem Elfjährigen, der in Spandau mit einer Pistole herumgefuchtelt hat, ist nicht bekannt, ob er traumatisiert war oder ob es ganz andere Ursachen für sein Verhalten gab. Bekannt ist nur, dass er aus der Norm fällt. Für ihn ist jetzt Einzelunterricht geplant.
Schulpsychologen wie Siebert untersuchen bei so einem Flüchtlingskind die Umstände seines Lebens. Ist er allein im Land? Sind die Eltern da? Wie sind die Lebensumstände? Welche Erfahrungen in der Heimat hat die Familie gemacht? Oder auf dem Weg nach Deutschland?
Viele traumatisierte Schüler leben sogar eher unauffällig. „Bei Traumatisierung ist Vergessen eine Lösung“, sagt Siebert. Viele schreckliche Erfahrungen sind vergessen, so lange es nicht zu einem Schlüsselerlebnis kommt, das wieder die fürchterliche Vergangenheit wachruft. Das kann eine Berührung sein, ein bestimmter Anblick, ein Geräusch, manchmal genügt ein bestimmtes Wort. Dann ist besondere Hilfe nötig. „Entscheidend ist“, sagt Siebert, „dass ich in wertschätzendem Kontakt mit dem Kind oder Jugendlichen bin“.
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