Berlin: Von älteren Mäusen und Menschen
Eine Pille gegen das Vergessen – ist das Unfug? Nein. Der Nobelpreisträger Eric Kandel entwickelt sie gerade. In fünf Jahren soll „MEM 14 14“ in den Apotheken zu haben sein. Ein Besuch in New York
Das Gedächtnis ist ein untreuer Freund. Im Alter wird es zum Betrüger. Es wird flatterhaft, und wir versuchen vergeblich, es wieder einzufangen.
Was passiert da mit unserem Gehirn? Und: Kann man das verhindern?
Wir befinden uns im New York State Psychiatrie Institut der Columbia-Universität, einer Zentrale der weltweiten Gedächtnisforschung, auf der Suche nach Antworten.
Ganz oben, im zehnten Stock des rostroten Backsteinturms, geht’s nur noch im Schutzanzug weiter. „Keine Angst“, sagt Brian Skorney, 25, Biologe und Manager des Labors, ein Grinsen auf dem Gesicht, „es ist nicht so, dass wir Sie vor den Mäusen schützen müssten. Wir müssen die Mäuse vor Ihnen schützen.“ Skorney reicht einen gelben Kittel, blaue Handschuhe und eine Kappe. „Sie könnten die Mäuse mit einem Erreger anstecken."
Diese Mäuse sind wertvoll. Mit ihrer Hilfe sind die Wissenschaftler weit gekommen im Ringen um die Geheimnisse des Gedächtnisses – 45 Mann in einem Labor, das ein Nobelpreisträger leitet. Es reicht ihnen schon nicht mehr, nur zu verstehen. Jetzt wollen sie auch verändern: Sie wollen den drohenden Gedächtnisschwund aufhalten – mit einer Pille gegen das Vergessen. Mit einem Rezept gegen die Vergesslichkeit im Kleinen, das Nachlassen im Alltag, das häufigste geistige Handicap der späteren Jahre. Die Hälfte der über 65-Jährigen leidet darunter.
Wir laufen durch eine düstere Halle, der junge Manager voran, vorbei an Räumen, in denen sich die Mäusekäfige stapeln. Stallgeruch, muffig, süßlich. „Behaviour Testing 5“ steht auf einem Türschild am Ende des Flurs. Und jetzt geht’s selbst im Schutzanzug nicht weiter – die Tür bleibt zu. Dahinter läuft gerade ein wichtiger Versuch. Hinter dieser Tür strampelt eine Maus um ihr Leben.
Hinter dieser Tür haben die Forscher diese Maus in ein rundes Minischwimmbecken gesetzt, das Wasser ist weiß wie Milch. Weil Mäuse keine Wasserratten sind, suchen sie schnellstmöglich den Weg zu einer kleinen Plattform, die sich irgendwo gleich unter der Oberfläche befindet. Weil das Wasser trübe ist, können die Tiere die Plattform aber nicht sehen, zu ihrer Orientierung helfen nur Markierungen an der Innenwand des Beckens, ein Stern, ein Viereck.
Da steht also der Labormanager vor einer verschlossenen Tür und sagt: „Das erste Mal im Wasserlabyrinth ist für eine Maus besonders unerfreulich. Sie muss die Plattform nach dem Zufallsprinzip finden.“ Danach werde es mit jedem Mal einfacher: Mit Hilfe der Wandmarkierungen schwimmt die Maus immer gezielter und schließlich direkt auf die Plattform zu. Sie hat sich den Weg gemerkt.
Na gut, aber wie hilft uns das auf der Suche nach der Gedächtnispille? „Das“, sagt der junge Mann, „wird Ihnen Dr. Kandel erklären.“ Er geht weiter voraus bis zu einem großen Eckzimmer, gleich daneben weitere Labore, Reagenzgläser, Chemikalien; der Chef ist noch nicht da. Im Flur stehen Kartons, „wir installieren gerade ein neues Hightech-Mikroskop“. Der Blick reicht bis hin zu den Wolkenkratzern von Downtown-Manhattan, und auf der Fensterbank drängeln sich Fotos. Eins zeigt Kandel im Frack: Kandel, wie er den Medizin-Nobelpreis in Empfang nimmt.
Das war im Jahr 2000. Eric Kandel, vor einigen Tagen 75 geworden, bekam damals die wichtigste Auszeichnung der Welt für seine Erkenntnisse über die Struktur des Gedächtnisses. Bis hin zu den Molekülen hatte er enträtselt, was im Gehirn passiert, wenn wir uns etwas merken. Sein zentraler Befund: Beim Lernen ändern sich die Stellen, an denen sich zwei Nervenzellen treffen: die Synapsen. Sie vermehren sich und werden größer – womit sich die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen verbessert.
Mit dem Alter können diese molekularen Prozesse aber ins Stocken geraten. Die Neuronen, die für unser Erinnerungsvermögen zuständig sind, erlahmen. Ihre Synapsen wachsen nicht mehr so leicht, und es fehlt an Botenstoffen, über die die Nervenzellen ihre Signale austauschen. Die Folge: Das Lernen fällt uns immer schwerer. Und wir werden vergesslich.
Es wartet da ein Millionenmarkt, und das hat auch der Nobelpreisträger gemerkt – noch bevor er Nobelpreisträger wurde. Schon 1998 hatte Kandel „Memory Pharmaceuticals“ gegründet, im April 2004 ging das Unternehmen dann mit fünf Millionen Aktien an die Börse.
11 Uhr 05. „Entschuldigung, ich habe Sie warten lassen“, sagt Kandel an der Tür, er kommt geschäftig ins Zimmer, setzt sich aufs Sofa, das Grauhaar steht vom Kopf ab wie Flaum. Er sieht fröhlich aus in rosa Hemd mit roter Fliege.
Eine Frage, Dr. Kandel: Wie weit sind Sie mit der Gedächtnispille? Wie funktioniert sie? Wird sie wirken, sagen wir, wie starker Kaffee? „Oh nein“, sagt Kandel. „Kaffee können andere besser. Unser Mittel wird sehr viel wirksamer sein.“
Der Beweis: Experimente wie das hinter der Tür mit dem Schild „Behaviour Testing 5“.
Eine junge Maus lernt im Wasserlabyrinth schon nach einigen Durchgängen, wo die Plattform liegt. Die meisten älteren Mäuse dagegen verbessern sich kaum. Bei jedem neuen Versuch strampeln sie, als hätten sie die Plattform noch nie gefunden. Sie sind vergesslich, „typisch für ältere Mäuse", sagt Kandel – bis man ihnen MEM 14 14 verabreicht.
MEM 14 14 greift in die Chemie der Nervenzellen ein, die für unser Gedächtnis zuständig sind. Es führt zur vermehrten Produktion eines Eiweißes namens „Creb“. Creb wiederum schaltet eine Gruppe von Genen an, was zur Bildung zahlreicher weiterer Eiweiße führt. Eiweiße sind so etwas wie der Grundbaustein von Zellen. Die Folge: Die Synapsen werden gestärkt. Sie werden größer und füllen sich mit zusätzlichen Botenstoffen. MEM 14 14 wirkt wie ein Jungbrunnen.
In Großbritannien laufen bereits erste klinische Tests mit MEM 14 14. In fünf Jahren, schätzt Kandel, wird die Pille auf dem Markt sein – oder eine der Konkurrenz, denn zehn weitere Firmen sind ihm schon auf den Fersen. Und dann? Dann wird „eine Tablette täglich“ genügen, um der Vergesslichkeit ein Ende zu bereiten. Und nicht nur der Vergesslichkeit, sondern gleichzeitig einem Symbol für unsere Endlichkeit, einem ersten gemeinen, unbeeinflussbaren Symptom dafür, dass wir irgendwann keine Kontrolle mehr haben über unseren Körper.
Aber ist das schon alles?
Bereitet so ein revolutionäres Mittel nicht auch ein ethisches Problem?
Wer sagt denn , dass Senioren die Einzigen sein werden, die von der Gedächtnispille Gebrauch machen wollen? Was zum Beispiel ist mit dem Biologie-Studenten kurz vorm Examen, der sich die Zähne am Botanikstoff ausbeißt? Wird Kandels Pille dazu führen, dass nicht nur Senioren, sondern wir alle die Mittelmäßigkeit der menschlichen Merkfähigkeit nicht mehr akzeptieren wollen? Das perfekte Gedächtnis für jedermann – eine Gefahr?
„Dafür entwickeln wir diese Pille nicht“, sagt Kandel. Aber Missbrauch könne er nicht ausschließen.
Kandel geht zu einem Schrank, wo sich seine Studien stapeln, zieht eine heraus und fängt an vorzulesen über die wenigen dokumentierten Fälle von Menschen mit perfektem Erinnerungsvermögen. Und plötzlich hört sich der Traum vom absoluten Gedächtnis eher wie ein Albtraum an: Solche Menschen leiden. In ihrem Kopf herrscht Chaos. Sie haben Schwierigkeiten, noch eigene Gedanken zu fassen. Dagegen, sagt Kandel, hätten viele hochkreative Leute meist nur mittelmäßige Merkfähigkeiten – „meine ist auch nicht spektakulär“. Würde er seine Pille also schlucken?
Kandel lächelt. „Das würde ich. Aber noch brauche ich sie nicht.“
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