Berlin-Marathon: Vom Lauf des Lebens
Seit 27 Jahren predigt Klaus Feierabend vor dem Berlin-Marathon in der Gedächtniskirche. Früher ist der Pfarrer selbst mit gerannt – immer auf der blauen Herztonlinie.
Manchmal rannte er um Mitternacht los. Er machte in Spandau die Tür zu und lief zum Ernst-Reuter-Platz – und zurück. 25 Kilometer. Musste sein. „Da gehört schon ein bisschen Wahnsinn dazu“, sagt Klaus Feierabend. In seinen wildesten Jahren rannte er 120 Kilometer in der Woche. Wenn tagsüber die Zeit fehlte, dann eben nachts.
21 Mal hat er den Berlin-Marathon absolviert. Seine Bestzeit: 3 Stunden, 11 Minuten, 40 Sekunden. Nicht schlecht für einen, der mit 52 Jahren zum ersten Mal startete. Doch Klaus Feierabend gehört nicht wegen seiner Laufergebnisse zum Marathon wie der Chip zum Laufschuh. Feierabend ist Pfarrer und hält seit 27 Jahren am Abend vor dem Marathon in der Gedächtniskirche eine Predigt: übers Laufen und Leben und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Kommenden Sonnabend ist es wieder so weit.
Für seine Predigten findet er jedes Mal ein anderes Detail aus dem Läuferleben und entwickelt daraus in wenigen Sätzen eine ganze Lebensphilosophie: das Atmen war Thema, die schmerzenden Füße, die Verausgabung, die Anspannung davor und die Erschöpfung danach oder die blaue Linie, die dem Marathonläufer auf dem Asphalt den Kurs weist.
Den eigenen Rhythmus finden
Die blaue Linie versteht Feierabend wie die zehn Gebote: als freundliches Angebot und Ermutigung: „Hier geht’s lang. Mach was draus.“ Mensch wie Marathonläufer sollten bitte nicht angsterstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange davor verharren, vor den Geboten nicht und vor der Linie nicht, predigte Feierabend im blauen Oktogon am Breitscheidplatz. Denn nur zwanghafte Läufer und „religiöse Korinthenkacker“ zählten genau ab, wie viele Schritte sie direkt auf der bauen Linie machten. Feierabend redet aber nicht dem Laisser-faire die Rede. Nein: Wenn einer schummelt, lügt, etwa die Strecke abkürzt, um eine falsche Zeit vorzutäuschen, habe das schlimme Folgen: Er bringt sich selbst um Lebensqualität. Denn Laufen, das ist für Feierabend ein „Fest des Lebens“.
Im Leben wie im Sport geht es darum, den eigenen Rhythmus zu finden. „Laufe in deinem Atem, laufe ihm nicht davon.“ Es gehe darum, den „Herzton zu erspüren“. Feierabends Laufstil – immer verausgaben, aber langsam und mit Verstand – wird so zum Lebensstil und der Marathon zur Schule des Lebens.
Die Wände in Feierabends Häuschen in der Spandauer Waldsiedlung sind tapeziert mit Fotos von der Familie und seiner Läuferkarriere, mit Lebensweisheiten und Bildern von Lieblingslandschaften. Viele Erinnerungen haben sich angesammelt, Andenken an Reisen und Freunde aus nunmehr 80 Jahren. Auf einem Tisch stapeln sich Exemplare seines kürzlich erschienenen Buches mit den gesammelten Lauf-Predigten.
Es war nicht abzusehen, dass seine Predigten so populär werden würden, dass ein Verlag sie druckt. Am Anfang schlugen ihm Spott, Häme und großes Unverständnis von Pfarrerskollegen entgegen. Seine Lauferei sei ein einziges „Allotria“, meinten die. „Dickbäuchig auf dem Sofa sitzen ist ja wohl auch kein Zeichen des Heiligen Geistes“, spottete Feierabend zurück.
Der Preis für 40.000 Asphaltkilometer
Das Laufen lockere die Gedanken und die Verkrampfung und helfe bei der Suche nach der Wahrheit. Denn: „Die Wahrheit ist immer unverkrampft“, sagt Feierabend. In seine Betrachtungen übers Laufen und Leben fließt auch immer wieder Tagespolitik ein. Einen Berlin-Marathon gab es zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 genauso wie nach dem 11. September 2001. „Mit Brandsätzen in Kinderbetten verbrennen auch unsere Träume und Hoffnungen auf die Wiedergeburt der Menschheit durch christliche Gesinnung“, predigte er nach den rassistischen Ausschreitungen in Mölln und Rostock 1992. „Was nützt es dir und mir, du lieber Gesamtdeutscher in Ost und West, dass unser Bruttosozialprodukt Jahr für Jahr wachsen wird, wenn wir gleichzeitig Schaden nehmen an unserer Seele?“ Und doch kommt Feierabends Theologie nie aufdringlich daher. Sein Gott ist kein Buchhalter, der ab- oder aufrechnet.
„Ich hänge an der Hoffnung wie an einem Tropf, dass man lebenslang Marathonläufer bleibt, wenn man so innig auf der blauen Herztonlinie einer gewesen ist“, predigte Feierabend 2003, nachdem ihm die Ärzte das Marathonlaufen verboten hatten. Er hat Herzprobleme und sein rechtes Knie ist kaputt – „der Preis für 40.000 Asphaltkilometer“, sagt Feierabend. Heute ist er froh, wenn er zu Hause von der Küche ins Wohnzimmer und in den Garten humpeln kann. Seitdem er auf der Treppe gestürzt ist, trägt er auch noch eine Halskrause. Aber auch mit 80 Jahren, mit Krücken und Halskrause ist Klaus Feierabend im Denken und Predigen ein Läufer geblieben.
Feierabend wird am Sonnabend um 20.30 Uhr in der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz predigen. Sein Buch „Vom Lauf des Lebens“ mit Predigten zum Berlin-Marathon von 1986 bis 2013 ist im Arete-Verlag erschienen und kostet 14,95 Euro.
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Claudia Keller