Corona-Krise: Virusfrei wandern
Den Mitmenschen nicht zu nahe kommen? Auf Waldwegen geht das mühelos. Ein Buch gibt Tipps. Eine der 21 Touren haben wir ausprobiert.
Abstand halten! Reduzierung sozialer Kontakte und die nur aus gebührendem Abstand! Mitten im Wald, zwischen Michendorf und Ferch, fällt das nicht schwer. Gut anderthalb Stunden dauert die Wanderung nun schon, und die Menschen, die einem dabei begegnet sind, kann man fast an einer Hand abzählen: ein älteres Paar, das seinen Hund spazieren führt, drei, vier Angler, zwei Radlerinnen. Das einzige Lebewesen, das aus Zentimeterabstand ins Auge gefasst wird, ist eine dicke erdfarbene Kröte, die gemächlich über den Sandweg hopst und im Grün verschwindet. Nicht mal das Aquarium des Berliner Zoos vermag derzeit solche kleinen Sensationen zu bieten: wegen Coronakrise geschlossen.
Das also bleibt, vorerst: Ausflüge in die freie, die virenfreie Natur. Kultur? Gestrichen. Ausgehen? Ebenso. Sport? Bitte schön auf dem Hometrainer. Aber Wanderungen durch die Mark Brandenburg sind noch möglich, ob mit Fontane oder welchem gedruckten Wegbegleiter auch immer. Zum Beispiel dem passenderweise soeben erschienenen Reiseführer „Wandern mit Kindern rund um Berlin“, dessen Autorenpaar Florian Amon und Pavla Nejezchleba darin „21 kinderwagenfreundliche Touren“, sogar „mit Geschichten zum Vorlesen“ verspricht.
Outdoor-tauglicher Kinderwagen? Es geht auch ohne
Wobei „rund um Berlin“ ziemlich weit gefasst ist. Auch Spreewald, Niederfinow, Bad Saarow und Fürstenberg werden dazugerechnet, aber eben auch, als das dem Südwesten Berlins nächste Ziel, die Wanderung vom Bahnhof Michendorf zum Strandbad Ferch, von dem es dann per Bus und Bahn zurückgeht. Eine Strecke von rund zehn Kilometern, nach Bewertung der Autoren in drei Stunden zu bewältigen, mit Kinderwagen von „mittlerem Schwierigkeitsgrad“ – der Weg könne also „auch mal sandig oder uneben (z.B. durch Wurzeln) sein“, es empfehle sich „ein outdoor-tauglicher Kinderwagen mit größeren Rädern“. Nun, der ist gerade nicht zur Hand, übrigens auch kein Kind, aber warum sollte man als familienfreundlich empfohlene Wanderwege nicht auch allein ausprobieren können.
Zumal man nun keinen Kinderwagen die Treppe hochbuckeln muss, die – wie im Buch penibel verzeichnet – auf der dem Bahnhofsgebäude gegenüberliegenden Seite der Gleisanlagen hoch aufs Straßenniveau führt. Wie ohnehin die Wegbeschreibung, auch dank der beigefügten Karte und manch anderer Angaben zur Tour, sich als erfreulich präzise erweist und der kleine Irrtum in der einzuschlagenden Richtung, der später leider doch unterläuft, nur eigener Dusseligkeit zuzuschreiben ist. Einmal nicht aufgepasst …
Aber noch sind wir nicht so weit, noch geht es schnurgeradeaus durch den Wald, anfangs zur Linken die Zivilisation noch immer in Sichtweite, in Gestalt neuer, dann älterer Einfamilienhäuser, schließlich eines ehemaligen, im Dornröschenschlaf vor sich hin gammelnden Ferienlagers aus DDR-Zeiten. Am Wegesrand grünt es bereits, blüht mal in Weiß, mal in Blau. Überall zwitschert es, ab und zu taumeln die ersten Schmetterlinge der Saison vorbei, und irgendwo tiefer im Wald müssen auch die Wildschweine lauern, die den Waldboden beidseitig des Weges wieder und wieder umgewühlt haben. Bekommen Großstadtkinder nicht jeden Tag zu sehen.
"Es lächelt der See, er ladet zum Bade"
Nach gut zwei Kilometern „lächelt der See, er ladet zum Bade“, so würde Schiller jetzt wohl formulieren. Nun, um diese Jahreszeit traut sich noch niemand ins Wasser der kleinen Badebucht mit Naturwiese und Sandstrand. Es ist ja auch keiner da außer dem älteren Ehepaar mit Hund, das, wie der Mann erzählt, jeden Tag hierher zum Großen Lienewitzsee kommt. Ein wirklich lieblich anzusehendes Gewässer, von Mischwald umstanden, das Ufer da und dort mit Schilf umsäumt, ab und zu ein fischender Haubentaucher und andere Wasservögel. Mit gut gefülltem Picknickkorb wäre dies jetzt ein guter Platz für eine erste Rast. Im Sommer dagegen dürfte es hier hoch hergehen, gerade abends, ein mit leeren Bierflaschen dekorierter Strauch lässt dies ahnen.
Ein manchmal etwas holpriger, aber selbst mit unserem imaginären Outdoor-Kinderwagen noch gut gangbarer Weg führt nun am Südufer um den See herum, vorbei an einer naturbelassenen Waldszenerie, Bäume in jedem Stadium des Wachstums und Verfalls, darunter mancher vom Sturm gefällte Riese mit bizarr ragendem Wurzelwerk, daneben morsche, gerade noch aufrechte und von Spechten durchlöcherte Stämme – fast Wildnis.
Gastronomische Angebote gibt es erst später
An der Westseite des Sees dann eine kleine Siedlung, von der aus der Ferne nur ein paar Bootshäuser zu erkennen waren und die dem Großen wie dem benachbarten Kleinen Lienewitzsee den Namen gab: offiziell ein Ortsteil Michendorfs, bei näherer Betrachtung eine idyllische Ansammlung von Datschen, zwei stabilen Wohnhäusern und einem schon betagten, offenbar ganz aus Holz zusammengefügten Gebäude, Sitz des Michendorfer Anglervereins. Gastronomische Angebote sollte der Wanderer im Ort aber nicht erwarten. Die gibt es erst wieder in Ferch.
Als Abstecher empfehlen die Buchautoren nun eine Umrundung des Kleinen Lienewitzsees, nennen als Attraktion am Ufer „die große, alte Kurfürsteneiche“. Aber wie groß, wie alt, welcher Kurfürst? Die Antwort bleiben sie schuldig, was schon etwas schade ist, wenn man nun vor diesem als Naturdenkmal ausgewiesenen Baummonstrum steht: ein Riesenstamm, knapp sechs Meter Umfang, mit einem Durchmesser von knapp 1,80 Metern, wie sich über Google schnell erfahren lässt. Inzwischen mehr ein Baumskelett, viele knorrige Äste abgestorben, einige sicher morsch, manche bereits herabgestürzt, aber noch sind in der etwas gruselig wirkenden Krone auch Zweige mit jungen Trieben zu erkennen.
Kurfürsteneiche? Aber welcher Kurfürst?
Bleibt die Frage nach dem Alter und dem Namen. Ein danach befragter Angler, wohl nur an Fischen interessiert, hat keine Ahnung, ihm ist die Rieseneiche noch nie aufgefallen. Auch beim zuständigen Schwielowsee-Tourismus weiß man es nicht, kann es auch bei Heimatverein und Forstamt nicht erkunden, tippt immerhin auf den Großen Kurfürsten, also den letzten brandenburgischen Monarchen, der sich mit diesem Titel begnügen musste. Auf den gehe schließlich das nahe Schloss Caputh in seiner heutigen Form zurück. Der Baum wäre dann rund 350 Jahre alt.
Der kleine Umweg ist nicht nur des Baumriesen wegen zu empfehlen. Man erspart sich einen Teil der mit Kinderwagen doch etwas unbequemen, im Buch so auch ausgewiesenen Ortsstraße mit ihrem historischen Feldsteinpflaster – und stößt, bevor man doch noch auf sie einschwenken muss, zwischen Bäumen auf eine an dieser Stelle unerwartete, frisch mit Blumen geschmückte Grabanlage samt Metallkreuz und Plakette, wonach hier „am 2. Mai 1945 Obergefreiter Jakob Schreiber“ gefallen sei. Um die beiden idyllischen Seen ging es nicht immer so friedlich zu wie heute.
Nun, nach halber Strecke, ist es mit der Bequemlichkeit des Wanderns, auch mit der narrensicheren Wegführung erst mal vorbei. Für einige Hundert Meter geht es auf dem Holperpflaster weiter, unter einer Bahnbrücke durch, über die hin und wieder Regional- oder auch schon mal endlos lange Güterzüge poltern, dann scharf nach links zurück in den Wald. Die Tour führt jetzt bergauf, Waldwege kreuzen und können schon mal verwirren, mit der Folge kürzerer Irrwege. Familien mit kleinen Kindern, ob im Wagen oder zu Fuß, dürften da schon mal zu japsen beginnen, immerhin liegen bereits etwa anderthalb Stunden Fußmarsch hinter ihnen. Das Ziel ist aber noch lange nicht in Sicht, auch ein paar laut Karte „schwierige Stellen“ sind noch zu bewältigen, vor wie auch hinter dem nächsten Zwischenziel, dem Aussichtsturm Wietkiekenberg mit seinen 113 Stufen. Von dort ist es immerhin nur noch ein Kilometer bis zu den ersten Häusern des am Schwielowsee gelegenen Ferch mit dem Strandbad, der Fischerkirche von 1630 und dem Museum der hier Ende des 19. Jahrhunderts blühenden „Havelländischen Malerkolonie“. Auf dessen Besuch sollten sich kunstaffine Familien derzeit allerdings nicht freuen: wegen Corona geschlossen.
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