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Stand auf dem Polenmarkt in Hohenwutzen
© Imago/blickwinkel

Mit dem Bus zum Polenmarkt: Vierzig Schachteln westwärts

Gerade hat die Polizei einen Ring von Zigarettenschmugglern zerschlagen. Derweil fahren Berliner zum Tabakkauf nach Polen. Aber nicht nur deshalb. Eine Erlebnisfahrt im Reisebus.

Mittwoch, Ostbahnhof, Regen. Wo bitte geht es hier nach Polen? Immer den Schirmen nach. Die Senioren sind nicht zu übersehen im Nieselregen, frische Dauerwellen und Lederblousons weisen den Weg. Ihr Ziel: der Polenmarkt Hohenwutzen jenseits der Oder. Alle sind Routiniers, so um die 70, und überqueren die Grenze das fünfte, fünfzehnte, fünfzigste Mal, um günstig einzukaufen. Verirrt sich ein Neuling in ihre Gruppe, wird er wissend gemustert und freundlich gefragt: „Erster Ausflug, ja?“ Helga lacht. Das Geniesel treibt ihre Mascara in langen Bahnen über die Wangen. Sie sieht wetterbedingt aus wie ein Action Painting. Natürlich hat die Kreuzbergerin einen Trolley mitgebracht. Nur ein Anfänger kommt ohne.

Der Bus eines Berliner Touristikunternehmens fährt vor, mittwochs geht’s nach Hohenwutzen, freitags nach Küstrin, Rückfahrt jeweils 15 Uhr. Die Schirme klappen choreografiert ein. Mit erfahrungssattem Jargon kann man sich nun als Vielfahrer profilieren: Wo ist der andere Fahrer? Fahrtziel steht sonst in der Scheibe. Eigentlich ist der Bus immer blau. Wetter haben wir so nicht gebucht!

Gardinen kaufen und Nägel lackieren

Beim Einsteigen: umgedrehte Klassenfahrtdynamik. Alle wollen vorn sitzen. Wer freiwillig nach hinten rutscht, wirkt nicht cool, sondern komisch. Unfallrisiko? „Der Bube fährt doch sicher.“ Der Bube, also der Fahrer, ein Deutschpole mit dynamischer Frisur und dynamischem Kurvenstil, schreitet die Reihen ab, um das Geld zu kassieren – und die Sprüche. „Wucher“, bellt Herbert. Marianne sagt: „Hier, meine ganze Rente.“ Zwölf Euro kostet die Tour, hin und zurück, wenn man viel einkauft, lohnt sich das. Oder wenn man Zigaretten kauft, die Stange etwa zum halben Preis. 800 Stück, 40 Schachten, dürfen steuerfrei eingeführt werden. Aber nicht mehr lange: Zum Jahreswechsel ändern sich die Zollbestimmungen, dann sind nur noch 300 Stück frei.

Ist es mit den Polentouren dann vorbei wie mit den Butterfahrten auf dem Oderhaff vor zehn Jahren, als das Nachbarland der EU beitrat? Dem Busunternehmen ist da nicht bange, und erst recht nicht den Mitfahrern. Hohenwutzen bleibt Rabatteparadies. Obst, Gemüse, Haarschnitte, Fleisch, Kleidung und Möbel sind in Polen preiswerter. „Ich will Gardinen kaufen und mir die Nägel machen lassen“, sagt Helga. Sie hat ihre Schminke korrigiert.

Zwischenhalt in Wuhletal: der Bus riecht nach Leberwurst

Eine halbe Stunde nach Abfahrt Zwischenhalt Wuhletal, der Bus riecht nach Leberwurst. 15 Minuten später Zwischenhalt Ahrensfelde, der Bus riecht nach Piccolo.

Helga berichtet von ihrer Vorliebe für Kaviar und Bisongraswodka. Die korpulente Köpenickerin gehört der Dampfplaudererfraktion an, zu jeder Feldwiese eine Anekdote. Andere sagen nichts, haben alles gesagt, gesehen, erlebt, es geht jetzt nur noch um das polnische Schnäppchen, ein Kilo Schweinehack für zwei Euro. Der Bus: schnell, der Bube: sicher, die Atmosphäre: gut.

Und angeschnallt sind auch alle. Ein Altersphänomen, genau wie das Siezen, trotz jahrelanger Bekanntschaft. „Kommen Sie, Frau Dunert, setzen Sie sich doch zu uns. Vielleicht könnte Ihnen ein Früchtetee gefallen?“

Vorbei am Gefallenenfriedhof in Bad Freienwalde, es geht in Richtung Oder, und Enrico erzählt vom Krieg, als läge er neben Ernst Jünger im Schützengraben. Viele der Polenmarktfahrer haben die Bombennächte noch erlebt als Kinder oder Jugendliche. Das Areal, auf dem heute der Polenmarkt steht, war besonders heftig umkämpft, Granatsplitter haben sich in den Backstein gefressen, den man jetzt schon sieht, hinter der Oder, die Deutschland von Polen trennt und den teuren Schinken vom günstigen.

5000 Autos passieren die Grenzbrücke in Hohenwutzen jeden Tag, die meisten davon wollen zum Markt. Sagt jedenfalls dessen Geschäftsführer, Nicolas Gesch. In den neunziger Jahren ertranken hier nur ein paar Buden im Schlamm, dann setzte das Wachstum ein. Es wurde planiert und gepflastert. Heute ist das Gelände riesig, 700 Stände, mehr als 200 davon in beheizten Hallen, dazu 500 Parkplätze, geöffnet auch an Sonn- und Feiertagen. „Ausgelastet sind wir trotzdem nicht, wir vergrößern die Marktfläche nach hinten“, sagt der Chef. Zahlen zum Gesamtumsatz liegen ihm keine vor.

Ist den Rentnern sowieso egal. Als die Bustür öffnet, schwärmen sie aus in die ehemaligen Papierfabriken, die modernisiert sind, aber immer noch zweckmäßig hässlich, entkerntes Dauerschlussverkaufs-Ambiente, in dem es nichts gibt, was es nicht gibt. Enrico, der konsequente Filterlosraucher, steuert zum Stand seines Vertrauens. „Billig Zigaretten, billig Zigaretten“, ruft ein Schiebermützenträger, das Nikotin hat er zu mannsgroßen Pyramiden aufgeschichtet. Luckys, Camels, Marlboros. Das EU-Steuersiegel weist ihre Echtheit aus, da muss man genau aufpassen. Denn immer wieder überschwemmen auch Schmuggelzigaretten den deutschen Markt, erst am vorigen Donnerstag hob die Berliner Polizei einen Ring aus und stellte 1,5 Millionen Zigaretten sicher, die in einer Untergrundfabrik in Polen produziert worden sein sollen.

„Es gibt viele Vorurteile gegenüber den Polenmärkten, aber diese Gardinen passen toll zu meinem Teppich.“

Enrico verstaut vier Stangen in seinem grauen Rollkoffer. Einkauf erledigt nach sieben Minuten, einen Kaffee noch im Bistro, schwarz, kein Zucker, wie immer, und dann wird Enrico über drei Stunden auf den Rest der Entourage warten und die erste Stange schon zu einem Zehntel wegqualmen.

Helga plaudert sich derweil durch die wellblechbedeckten Verschläge, den Bisongraswodka hat sie, Flasche für 5,99 Euro, von links und rechts schallen die Verkaufskanonaden heran, Gartenzwerge, Bier, Aal, bester Preis, beste Qualität, je lauter der Regen, desto lauter das Rufen der schnauzbärtigen Herren in Ballonseide. Motorboote sind im Angebot und Ledertaschen auch, Feuerwerk, Hundefutter, echte Blumen und falsche. Über dem Feuer braten die Schaschlikspieße und Schnitzel, und aus den willkürlich in allen Gängen arrangierten Musikanlagen dudelt Andrea Berg in Dauerschleife „Doch davon geht die Welt nicht unter / auch wenn mein Herz dich schon vermisst.“ Das, so die Annahme der Händler, muss die Musik der Deutschen sein, und ein bisschen haben sie ja auch Recht. Zumindest die Musik der gealterten Busreisenden ist es. Helga summt mit, während sie zwischen Daumen und Zeigefinger Gardinen befühlt und sich für beigefarbene Schals entscheidet, bestickt mit grasenden Pferden. German Romantik, made in Poland.

Alsbald kehrt Helga zum Bus zurück, bepackt wie ein nepalesischer Sherpa und überpünktlich aus Furcht, an der Oder vergessen zu werden. „Es gibt viele Vorurteile gegenüber den Polenmärkten“, erklärt die 72-Jährige, „aber diese Gardinen passen toll zu meinem Teppich.“

Moritz Herrmann

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