Arbeitslosigkeit: Vier auf Hartz IV
Klaus hat keine Arbeit. Dani auch nicht. Amy schreit. Charleen zappelt. Die Kanzlerin macht Mut, der Bundespräsident fordert Engagement. Das Jahr 2009 aus der Perspektive einer Berliner Hartz-IV-Familie.
Gefeiert wird trotz allem. Silvester in Marienfelde, das Jahr 2009 beginnt, und die Meyer-Tismers lassen’s krachen, ein kleines bisschen jedenfalls. Dani und Klaus umarmen sich. Neujahr, das hat immer etwas Tröstliches, auch wenn die Lage trostlos scheint. Man rauft sich zusammen, hat einen Anlass zu trügerischer Sorgenfreiheit. „Allet Jute für’t Neue“ rufen die Nachbarn vom Balkon und winken mit Sektflaschen.
Am Morgen danach ist Marienfelde übersät von abgefackeltem Discounter-Feuerwerk und Bruchglas. Das Feiern ist vorbei. Jetzt schauen Dani und Klaus nach vorne. Was wird es ihnen bringen, dieses neue Jahr, in das sie erstmals als Hartz-IV-Familie hineingefeiert haben? „Bammel haben wir schon“, sagt Klaus.
Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache: „Ich bin überzeugt: Wenn sich auch im kommenden Jahr jeder für etwas einsetzt, das für ihn in diesem Land besonders liebens- oder lebenswert ist, dann wird es uns allen noch besser gehen.“
15. Januar.
Dani hat Geburtstag heute, sie wird 33 Jahre alt. Von ihrem Mann bekommt sie ein Handy, für das die Familie zusammengelegt hat. Dani sagt: „Es kann nur besser werden.“
Ein übles Jahr hat sie hinter sich. Das Schlimmste war der Tod vom Papa. Bis zum Ende hat sie ihn gepflegt. Als er dann starb, Nasenkrebs, da war das letzte Fitzelchen Kraft weg. Die ganze Familie schlingerte nur noch dahin, selbst Oma Gabi, die ansonsten so voller Lebenslust ist. Niemand da, der ihnen half in ihrer Trauer. Da mussten sie alleine durch.
Dann, nur eine Woche nach Papas Tod, verlor Dani eines von zwei Zwillingskindern, die in ihrem Bauch heranwuchsen.
Gleichzeitig wurde Charleen, ihre ältere, hyperaktive Tochter, immer unkontrollierbarer. Einmal schlug sich das Mädchen an der Heizung im Bad so fürchterlich die Stirn auf, dass die gelernte OP-Schwester Dani gänzlich die Nerven verlor. Wäre da nicht Klaus gewesen! Er schickte seine Frau aus dem Bad und kümmerte sich um das blutende Kind.
Im Herbst verlor dann Klaus die Arbeit in Strausberg. Auf einmal war man auf Hartz IV.
„Nee“, sagt Dani an ihrem Geburtstag. „Es kann nur besser werden.“
Im Januar wird der Gewichtheber Matthias Steiner zum Sportler des Jahres 2008 gekürt. Er hatte sich nach dem Tod seiner Frau ins Training verbissen, bei den Olympischen Spielen stieg er zum stärksten Mann der Welt auf. In Deutschland feierte man ihn als einen, der zeigt, dass man sich von der Trauer nicht unterkriegen lassen darf.
2. Februar.
Dani sitzt im Wohnzimmer und spielt mit Amy, dem Baby, das allein auf die Welt kommen musste, ohne seinen Zwilling. Zu viert sind sie jetzt in Marienfelde. Die Geburt war qualvoll.
„Drei Tage, nachdem ich fällig gewesen wäre“, erinnert sich Dani, „wurden die Ärzte nervös und leiteten die Wehen ein. Klaus zog sich noch den Kittel an, aber als er zurückkam, war ich schon im OP. Als ich aufwachte, stand er mit meiner Mutter weinend am Bett. Amy war so winzig.“
Dass sie bei der Geburt wegen des hohen Blutverlusts fast selbst gestorben wäre, erwähnt Dani nicht. Wer will das schon wissen?
1. Mai.
Papas Todestag jährt sich. Der Schmerz trifft Dani genau so überwältigend wie vor einem Jahr. Da kann auch Klaus nur noch helfen, indem er sich mit den Kindern beschäftigt. „Dit wird schon“, murmelt er. Dani vergräbt sich in Erinnerungen. Der Papa war ein wilder Hund im Wedding. Erfolgreicher Boxer mit gutem Punch. Einer, der sich durchs Leben gekämpft hat. Manchmal nicht ganz sauber, aber das konnte man ihm nicht übelnehmen.
Mit Dani wurde er erst richtig herzlich, als sie schon eine junge Frau war. Dann aber waren sie unzertrennlich. Verdammter Krebs! Diese Quälerei, die nicht zu enden schien. Der Tod als Erlösung. Dieses Gefühl, der Boden unter den Füßen sei weg.
Jetzt ist die Trauer wieder da. Dazu das Kümmern um die Familie, die Geldsorgen, die Angst vor der Zukunft.
Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer in seiner Rede zum 1. Mai in Bremen: „Millionen sind schon arm in die Krise gegangen, mit Löhnen, von denen sie nicht leben können. Mit unsicherer Beschäftigung, deklassiert und teilweise sogar verachtet. An Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist der Aufschwung der vergangenen Jahre spurlos vorübergegangen. Und jetzt sollen wir alle es ausbaden, mit Einkommenseinbußen, Existenzangst und Entlassungen. Und natürlich sollen wir den ganzen Mist auch noch bezahlen.“
2. Juni.
Klaus hat Geburtstag, er wird 42 Jahre alt. Dani schenkt ihm eine Hollywoodschaukel, Sonderangebot vom Bauhaus. So richtig fröhlich ist Klaus an diesem Tag nicht. Obwohl Charleen ungewöhnlich brav ist.
Ein halbes Jahr ist er jetzt ohne Arbeit. Am Anfang hat er für die Bewerbungen noch teure Mappen gekauft. Aber er bekam nur ganz selten Antworten, und wenn, dann Absagen. Jetzt bewirbt er sich per E-Mail.
Verkäufer für weiße Ware hat er gelernt. Er kennt sich aus mit den Besonderheiten von Waschmaschinen und Geschirrspülern, hat in renommierten Fachmärkten gute Provisionen bekommen. Bis man ihn nicht mehr brauchte.
Hat sich als Kneipier in Steglitz versucht. „Fitzefatze“ hieß die winzige Pinte. Lief anfangs gut, aber er konnte nicht so recht umgehen „mit den vielen Psychopathen, die da abhingen“.
Noch einmal eine Stelle als Verkäufer. Wieder gekündigt.
Und jetzt? Nichts mehr. Er hält sich wacker, kümmert sich um die Kinder, führt den Hund aus – aber er ist blass, wiegt zu viel, und Sport geht nicht mehr, wegen der Knie. Wenigstens der Humor ist ihm geblieben.
Das sagt er sich immer wieder: Wenigstens der Humor ist mir geblieben.
Aber die Sorgen, die lassen sich nicht weglachen. 1365 Euro Hartz IV. Die 80-Quadratmeter-Wohnung in Marienfelde kostet 650 Euro. Haushaltsbudget? „Ach was, wir müssen generell jeden Monat irgendwas schieben. Haushaltsplan machen wir nicht mehr.“
Von einem Tag auf den anderen ein Mensch zweiter Klasse. „Vor kurzem waren wir im Zoo. Als ich da wegen der Ermäßigung meinen Hartz-IV-Ausweis an der Kasse vorlegen musste, das war schon bitter.“
3. August.
Charleen muss ins Krankenhaus. Die hyperaktive Fünfjährige ist kaum mehr zu bändigen. Jetzt müssen die Medikamente neu eingestellt werden. Charleen, ein Kind, das Erwachsene zur Weißglut treiben kann, mag nicht von zu Hause weg. Doch es geht nicht anders. Man muss das Mädchen vor sich selbst schützen – und die Eltern entlasten. Deren Nerven liegen ohnehin schon blank.
In der Einsteinstraße in Prenzlauer Berg hängen am weißen Fenstergitter eines Plattenbaus zwei Stricke. An einem hängt der Körper einer Frau. Darunter, auf dem Rasen, liegt ein Mann, der Kopf vom Körper abgetrennt. Die Polizei stellt den Freitod des Paares fest und aktualisiert die Selbstmordstatistik. 347 Menschen haben sich 2008 in Berlin das Leben genommen, für 2009 werden ähnliche Zahlen erwartet. Drei Viertel der Selbstmörder sind Männer. Die meisten erhängen, strangulieren oder ersticken sich, etwas weniger vergiften sich mit Medikamenten oder stürzen sich in die Tiefe.
26. September.
Bestes Spätsommerwetter in Marienfelde. Die Nachbarn grillen, Charleen führt ihren Spielplatz vor. Plötzlich ist das Kind weg. Hat sich unter dem Maschendraht durchgeschoben. Klaus wird nervös, redet durch den Zaun auf die Tochter ein: „Charleen, komm zurück, da ist doch gleich die Straße, jetzt komm doch zurück.“ Es dauert fünf lange Minuten, bis Charleen sich überreden lässt. Auf der richtigen Seite des Zauns wird sie von Zicke begrüßt, dem Familienhund, der so langmütig ist wie sein Herrchen. Max ist auch da, der einjährige Kater.
Amy sitzt mit Hertha-Schal im Gras. Ein bisschen unpassend, findet Klaus. Wo doch die gute alte Hertha nur noch verliert.
Es ist halb vier Uhr nachmittags. Die Nachbarn packen jetzt den Alkohol aus.
Ende Oktober.
Klaus fährt nach Hohenschönhausen. Ein Jobangebot. Sechs Tage die Woche, Stundenlohn knapp über drei Euro, macht netto rund 800 Euro im Monat. Wo die Dauerkarte für die S-Bahn schon über 100 Euro kostet. Ein Witz.
Ein paar Tage später steht Klaus im Jobcenter. Ein Mann mit müdem Gesicht zwischen lauter entmutigten, wütenden Menschen.
„Würde mich nicht wundern, wenn hier mal einer mit ’ner Bombe reinmarschieren würde.“ Mehr sagt Klaus nicht. Aber mit seiner äußeren Ruhe wirkt er zwischen all den Aufgebrachten fast ein bisschen unheimlich.
Im Oktober sind in Berlin 228.727 Menschen ohne Arbeit, 7942 weniger als im September, aber 9377 mehr als im Oktober des Vorjahrs. Frank-Jürgen Weise, der Chef der Bundesagentur für Arbeit, sagt dazu: „Es ist nicht ganz so schlimm, wie befürchtet worden war.“
1. November.
Amy krabbelt zum ersten Mal. Wie schön! Dani sagt: „Es ist die Familie, es sind die Kinder, das baut uns immer wieder auf. Sonst hilft doch keiner.“
Papst Benedikt XVI. in der Allerheiligenpredigt auf dem Petersplatz: „Wir sind nie allein! Wir sind Teil einer geistlichen Gesellschaft, in der tiefe Solidarität herrscht. Das Wohl eines jeden einzelnen gereicht allen zum Vorteil, und umgekehrt strahlt das gemeinsame Glück auf die Einzelnen aus.“
16. Dezember.
Danis Schwester Liane ist zu Besuch, mit ihrer Familie, man will ein Gruppenfoto machen, für Oma Gabi. Die ist schon so oft hingefallen und wieder aufgestanden. Jetzt soll sie ein professionelles Bild von ihren Lieben bekommen. Zu Weihnachten. Die Meyer-Tismers sind gut gelaunt heute, außer Amy, die quengelt. Dafür benimmt sich Charleen auffallend gut. Vielleicht kann man den Weihnachtsmann auf den letzten Drücker noch gnädig stimmen.
Leere Kasse, nicht nur bei den Meyer-Tismers. Auch in Marienfelde ist nichts mehr zu holen. Das Bezirksamt Tempelhof verordnet eine Haushaltssperre für die letzten drei Wochen des Jahres und die ersten Monate 2010. In Gefahr ist unter anderem der Bezirksrenntag auf der Trabrennbahn.
25. Dezember.
Charleen spielt mit ihrer neuen Barbie. Sie wirkt ausgeglichener in letzter Zeit, scheint Fortschritte zu machen. Es ist, als ob der Druck zum Jahresende ein wenig nachlasse. Klaus nimmt seine Frau fest in den Arm. „Wenn die mich nicht als Verkäufer wollen, mache ich halt was anderes. Ich will ja nur arbeiten, irgendeinen Job wird es ja wohl für mich geben.“
Dani nickt.
Bundespräsident Horst Köhler in seiner Weihnachtsansprache: „Es geht darum, den Weg für eine gute Zukunft zu finden. Trauen wir uns etwas zu! Es geht um eine Politik, die über den Tag hinaus denkt und handelt. Jeder von uns kann dazu beitragen.“
Ende Dezember.
Klaus Tismer zieht Bilanz: „Das Jahr war hart, verdammt hart. Ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht darüber geredet haben, wie beschissen es uns geht. Nein, wir haben 2009 keinen glücklichen Tag gehabt.“
Er bleibt eine kleine Weile stumm. Dann gibt er sich einen Ruck.
„Naja, ein paar schöne Momente gab es schon, mit den Kindern und so. Wenn ich es recht bedenke, dann waren es doch ganz schön viele Momente. Wenn wir uns mal richtig dreckig fühlen, erinnern wir uns daran. Und dann geht es schon wieder. Irgendwie.“
Detlef Vetten