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Anti-Gewalt
© David Heerde

Anti-Gewalt-Training: Verteidigung der Distanzblase

40 Bürger sitzen in einem wabenförmigen Raum in einem Polizeigebäude am Kaiserdamm: Beim Anti-Gewalt-Training der Polizei lernen friedliebende Menschen, mit Randalierern und Pöblern so umzugehen, dass ihnen und anderen nichts passiert.

Ein Ehepaar aus Lichtenrade ist aufgestanden, er ein Baumstamm, sie eine zarte Rose. Das Bild der beiden soll das Urteil erleichtern, darüber, was in Notwehr alles erlaubt ist. Er schaut sie an, sie schaut ihn an, beide lächeln schüchtern.

„So. Es gibt Streit. Er greift sie an. Sie nimmt ihren Hartschalenkoffer und schlägt dreimal auf ihn ein. Darf sie das oder nicht?“

Wieder so eine knifflige Aufgabe. Werner Mattausch, Anti-Gewalt-Trainer und Polizeibeamter vom „LKA Prä 4“, spielt Konflikte durch und wirft dann viele Fragen ins Publikum, auf die es keine klare Antworten gibt, kein hundertprozent Richtig oder hundertprozent Falsch.

40 Bürger sitzen in einem wabenförmigen Raum in einem Polizeigebäude am Kaiserdamm. Es sind viele ältere Frauen gekommen, wenige jüngere Männer, keine Jugendlichen. Von denen ist aber überwiegend die Rede, im „Basisseminar zum Umgang mit Aggression und Gewalt im öffentlichen Raum“.

Mattausch trägt Oberlippenbart, Poloshirt und Jeans. Erster Eindruck: netter Typ, eher friedfertig. Solche ersten Eindrücke sind wichtig, wiederholt der Anti-Gewalt-Trainer vom Landeskriminalamt beharrlich. Besser auf die Intuition verlassen, als nachher mit blutiger Nase zu Protokoll zu geben: „Das habe ich von Anfang an kommen sehen. Wie der schon geguckt hat …“

Den Täter kann man erkennen, an seiner Körpersprache, aber meist auch sein künftiges Opfer. „Auf Gefühle achten“, steht deshalb ganz oben auf der „Prinzipienkette“, die Mattausch an die Tafel gehängt hat, ovale Pappschilder, mit Klebestreifen verbunden. Die Kette ist neben der Tafel das wichtigste Unterrichtsmedium. Dann gibt es noch eine Videokassette mit ramponierter Tonspur.

Mattausch zeigt einen Film aus der U-Bahn in Frankfurt am Main. Skinheads bedrängen einen Schwarzen, und die Fahrgäste gefrieren vor Scham, Angst und Hilflosigkeit. Der Konflikt ist inszeniert, aber nicht die Reaktion der Umstehenden, und jeder hier erkennt sich wieder.

Mattausch erzählt von einem Experiment. Rund 40 Leute, die sich nicht kannten, wurden in einem Raum versammelt, dann kroch von außen Rauch hinein, immer mehr. Niemand reagierte. „Das nennen die Psychologen Verantwortungsdiffusion.“

Ein zweites Schlüsselwort heißt „Distanzblase“. Die muss man unbedingt verteidigen, verlangt Mattausch und holt eine feingliedrige Dame mit schmalen Schultern nach vorne. Er geht auf sie zu, sie streckt ihre Arme aus, abwehrend, er geht weiter, schiebt sie rückwärts, sie strauchelt. Distanzblasen-Verteidigung klar gescheitert. Warum?

Mattausch wiederholt das Experiment, jetzt wird er bedrängt. Eine Frau aus dem Publikum kommt auf ihn zu, er streckt beide Handflächen voraus und ruft: Stopp mal bitte! „Ein deutliches Stopp wirkt fast immer“, sagt Mattausch. Faustformel für die Distanzblase: eine Armlänge. „Bei den Arabern weniger, bei den Briten mehr.“

Eine Zuhörerin lebt in Wedding und möchte jetzt mal ganz konkret von Mattausch wissen, wie sie ihre Distanzblase verteidigen soll, wenn ihr vier arabische Jugendliche auf der gesamten Breite des Bürgersteigs entgegenkommen. „Genial“, freut sich der Trainer, „das Feigling-Syndrom.“ Er verschärft den szenischen Plot. „Ich habe meine Frau dabei. Die will natürlich einen Kerl haben und keinen Waschlappen. Woll’n wir doch mal sehen …“ Lacher im Publikum. Mattausch könnte auch Comedy-Shows machen.

„Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Die Jugendlichen entschuldigen sich – eher unwahrscheinlich. Oder sie sagen: Na, Alter …“ Die Gewaltspirale am Beginn der ersten Umdrehung. Der Polizeibeamte Mattausch erzählt, wie er sich abends in der Lipschitzallee, Neukölln, mal einem Trupp angetrunkener Jugendlicher näherte. „Ich bin einfach auf die andere Straßenseite gegangen und kam mir nicht als Feigling vor.“ Wenn die Jugendlichen schon ein Opfer gefunden hätten, würde Mattausch immer noch zum Wechseln der Straßenseite raten, „zur Eigensicherung“, um dann Hilfe zu organisieren. „Dies ist kein Seminar vom Abhauen.“

Es ist Zeit für ein eigenes Experiment. Die Seminarteilnehmer sollen sich vorstellen, in der U-Bahn zu sitzen. Eine groß gewachsene Frau um die 70 (zufällig Theaterregisseurin, aber das weiß Mattausch nicht) spielt das Opfer. Sie bekommt einen Stuhl und eine Zeitung. Mattausch setzt sich ein Basecap auf, verfinstert seinen Gesichtsausdruck und fläzt sich ihr gegenüber, breitbeinig, so dass sich die Knie berühren. Das Opfer streckt die Beine unter Mattauschs Stuhl. Könnte sich nun entspannen, die Sache, aber Mattausch, ganz Proll, misslaunig und angetrunken, stänkert. „Machste die Beene mal weg.“ Sie liest weiter. „Mach mal die Beene weg.“ Sie, etwas patzig: „Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie sich doch woanders hinsetzen.“ Sie zögert – „oder ich mach das“ – und geht. Er hinterher, nimmt ihr die Zeitung weg, schlägt ihr damit auf den Kopf. Sie flüchtet. „Das geht zu weit. Hilfe! Hilfe!“

Die Mitfahrer sind betroffen. Zwei haben dazwischengerufen, aber zu leise, keiner ist eingeschritten. Bei der Auswertung des Experiments sagt eine Frau, sie habe einen Impuls gehabt, sei aber „blockiert“ gewesen. Ein junger Mann erklärt, er habe „überlegt“ einzugreifen oder die Notbremse zu ziehen.

Notbremse, die Idee ist gar nicht schlecht, findet Mattausch. „Da ist ein Mikro dran, damit sie dem Fahrer erzählen können, was los ist.“

Im zweiten Teil des U-Bahn-Films verbünden sich spontan drei Männer und ziehen den Schwarzen in ihre Mitte. Auf einem Schild von Mattauschs Prinzipienkette steht: „Frühes Handeln.“

Nächster Seminartermin: 22. April, 18 bis 21 Uhr, Kaiserdamm 1. Anmeldung: Tel. 4664-97 94 15. Die Teilnahme ist kostenlos.

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