Berlins jüdische Gotteshäuser vor der Pogromnacht 1938: Untergang einer religiösen Vielfalt
In den Zwanzigern lebten 173.000 Juden in Berlin. Ihre Synagogen prägten das Stadtbild. Von den weit mehr als 100 jüdischen Gotteshäusern sind gerade einmal zehn übrig geblieben. Hier finden Sie eine interaktive Grafik, auf der Sie genau erkennen können, wo Berlins Synagogen und jüdische Gebetsräume standen.
Vor hundert Jahren gehörten Synagogen selbstverständlich zum Stadtbild dazu. Ihre Giebel, Kuppeln und Davidsterne boten Orientierung im Kiez wie die Türme der Kirchen. Weit über hundert jüdische Gotteshäuser muss es vor der Pogromnacht 1938 in Berlin gegeben haben. Wie viele genau, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. In Büchern, Archiven und in Berichten von Zeitzeugen finden sich Spuren von an die hundert Gebetsstätten. Eine Auswahl ist auf der nebenstehenden Grafik zu sehen. Heute gibt es in Berlin gerade mal zehn Synagogen.
Zentrum jüdischen Lebens waren die Viertel um den Hackeschen Markt und den heutigen Alexanderplatz. Aber auch in Kreuzberg siedelten sich Juden an, später auch im Westen der Stadt. Das hat damit zu tun, dass Juden nur durch einige wenige Tore die Stadt betreten durften: anfangs nur durch das Rosenthaler Tor, später auch durch das Prenzlauer Tor und im Süden durch das Hallesche Tor.
Die erste größere Synagoge bauten jüdische Familien 1714 in der Heidereutergasse 4 im heutigen Mitte. Sie waren 40 Jahre zuvor aus Wien gekommen. Der Große Kurfürst hatte sie eingeladen, weil er sich von ihren Fertigkeiten und Handelsbeziehungen einen Aufschwung für die Stadt erhoffte. Die Familien waren wohlhabend und feierten Gottesdienste zunächst in ihren Privathäusern. Den Behörden gefiel das nicht. Denn was privat war, konnten sie schlecht kontrollieren. Sie drängten darauf, dass sich die Familien auf eine Synagoge einigen sollten.
Klicken Sie sich hier durch unsere Karte: Wo standen Berlins Synagogen und jüdische Gebetsräume?
Durch die Synagoge in der Heidereutergasse ließ sich die Gründung von privaten Beträumen freilich nicht verhindern. 1770 beteten die damals 2000 Berliner Juden in 22 Privatsynagogen. Die jüdische Gemeinschaft wuchs schnell, viele Menschen flohen vor Pogromen in ihren Heimatländern ins liberalere Berlin. 1860 lebten hier etwa 28 000 Juden.
Ob eine neue Synagoge versteckt im Hinterhof errichtet wurde oder vorne an der Straße, sagt viel darüber aus, wie es den Bauherren ging, ob sie relativ unbehelligt leben konnten oder ob es gerade mal wieder eine Phase judenfeindlicher Gängelung gab. Eine gute Zeit war zwischen 1855 und 1875. In diesen Jahren wurde die Synagoge in der Oranienburger Straße mit 3200 Sitzplätzen errichtet. Sie zeugt vom gewachsenen Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinschaft.
Synagoge - eine Kirche ohne Turm?
In den Synagogenvereinen wurde viel darüber diskutiert, wie sehr man sich an die Bauweise der Mehrheitsgesellschaft anpassen soll. Sollten Synagogen aussehen wie Kirchen, nur ohne Turm? Konnte man zur jüdischen Tradition stehen? Doch oft ließ sich gar nicht so einfach sagen, was Merkmale jüdischer Bauweise waren. Der orientalische Stil? Viele Zuwanderer kamen aus Osteuropa und hatten mit dem Orient wenig zu tun. Wie in allen Religionen kämpften zudem orthodoxe und liberale Kreise um Anzahl und Gestaltung neuer Gotteshäuser.
Um 1900 kamen so viele Zuwanderer nach Berlin, dass die Gemeinde mit dem Synagogenbau kaum noch hinterherkam. 1905 lebten hier 130 487 Juden und machten 4,3 Prozent der Berliner Bevölkerung aus. 1925 waren es 172 623. Viele Neuankömmlinge lebten ärmlich in der Dragoner- und Grenadierstraße (heute Max-Beer-Straße und Almstadtstraße) und verwandelten die Straßen in osteuropäische „Schtetl“. Betuchte Familien setzten sich in den Westen ab und bauten in Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg große, prächtige Synagogen. 1912 errichtete die jüdische Gemeinde in der feinen Fasanenstraße ein imposantes Gotteshaus – als Stein gewordenes Zeichen ihrer Assimilation. Am 16. September 1930 wurde in Wilmersdorf die letzte Synagoge eingeweiht.
Steinerne Zeugnisse erinnern an die einstige Vielfalt
In der Pogromnacht 1938 wurden die meisten Synagogen und Betstuben angezündet, geplündert, zerstört. Was stehen blieb, enteigneten die Nazis und machten daraus Depots oder pferchten dort Menschen für den Abtransport in die Vernichtungslager zusammen. Die meisten Ruinen verschwanden aber erst in den 50er Jahren aus dem Stadtbild. Die wenigen überlebenden Juden hatten nicht die finanziellen Mittel, um die Häuser wieder aufzubauen.
Bis Januar informieren die Jüdische Gemeinde und das Centrum Judaicum mit der kleinen, feinen Ausstellung „Was blieb“ vor der Synagoge in der Oranienburger Straße über die zerstörten Gotteshäuser und was nach dem Krieg aus ihnen wurde. Man erfährt, dass sich die Berliner jüdische Gemeinde in den 50er Jahren bemühte, einen Teil der Entschädigungszahlungen zu bekommen, um sie in den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland zu investieren. Doch die Gelder flossen ausschließlich an internationale jüdische Organisationen.
Ob heute im Straßenbild etwas auf die verschwundenen Synagogen hinweist, hängt meist von Einzelpersonen ab: von Nachbarn, Schülern, Lehrern, Pfarrern, Mitarbeitern in Bezirksämtern. Je weniger Zeitzeugen von der Vergangenheit erzählen können, umso wichtiger werden Gedenktafeln und steinerne Zeugnisse, um an die religiöse Vielfalt in der Stadt zu erinnern und an ihr furchtbares Ende.
Claudia Keller
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