Auf Empfang für die Telefonseelsorge: "Unfassbar, was manche Menschen erleiden"
Viele ihrer Anrufer haben den Mut zum Leben verloren, andere eine Straftat begangen: Eine Ehrenamtlerin erzählt über 16 Jahre bei der Telefonseelsorge.
Die Stimme der Frau brach immer wieder weg, manchmal gingen die Worte einfach auch nur in Schluchzen über. Ihr immenser Leidensdruck hatte sie zu diesem Gespräch geführt, deshalb hatte sie die Nummer der Telefonseelsorge gewählt und Margret, ihrer Zuhörerin, erklärt, dass sie jetzt aus dem Leben scheiden werde. Und Margret hatte geantwortet: „Ich kann verstehen, dass sie sich umbringen wollen.“
Ein harter, ein gefühlloser Satz? Einer, der den anderen in seiner Not nicht auffängt, der den Suizid eher noch beschleunigt? Vielleicht klingt das so. Aber in Wirklichkeit fängt er auf wie ein weiches Netz, dieser Satz. „Er ist ein Zeichen von Mitgefühl“, sagt Margret, „er zeigt jenes Maß von Erschütterung, das dort hingehört, das ist ganz wichtig.“ Die schluchzende Frau hat erfahren, dass die andere ihr Leid nachempfinden kann. Es gibt Momente, da ist umfassendes Verständnis wichtiger als tröstende Worte. Die weinende Frau hat sich am Ende nichts angetan.
Es hätte aber auch anders ausgehen können. Die Frau hatte ihren Mann und ihre Kinder bei einem unverschuldeten Autounfall verloren, auf dem Weg in den Urlaub. Die erste Urlaubsreise nach vielen Jahren harten Sparens. Und ihre Schwiegermutter bezeichnete die trauernde Witwe als „Mörderin“. Die krude Logik hinter dieser Anklage: „Wärt ihr nicht in Urlaub gefahren, dann würden die anderen noch leben.“ Margret sagt: „Es ist unfassbar, was manche Menschen erleiden müssen.“
Mitgefühl zeigen, da sein, zuhören
Margret ist Juristin, 62 Jahre alt, ihre Schichten bei der „Kirchlichen Telefonseelsorge in Berlin und Brandenburg“ erledigt sie ehrenamtlich, seit 16 Jahren. Sie sagt ihren Nachnamen nicht, weil sie anonym bleiben will. Sicherheitsgründe. Vieles ist anonym bei der Telefonseelsorge (Hotline: 0800-1110111). Die genaue Adresse des Büros, die Namen der Mitarbeiter, die Namen der Menschen, die anrufen, wenn sie das wollen. Und es rufen viele Menschen an, sie haben Probleme mit der Familie, mit der Arbeit, mit dem Leben insgesamt. Sie rufen an, weil sie psychisch angeschlagen sind, selbstmordgefährdet oder einsam oder weil sie straffällig geworden und vom schlechten Gewissen geplagt sind.
Manche rufen aber auch nur an, weil sie dann das glückliche Gefühl haben, am anderen Ende der Leitung hebt jemand ab. Es gibt Gespräche, in denen hört Margret erst mal zehn Minuten lang nur leises Atmen. Sie sagt dann einfühlsam: „Ich bin für Sie da. Sie können reden, wenn sie wollen.“ Oft kommt dann der erste Satz, zögernd, verunsichert. Manchmal aber kommt gar nichts. Nur Schweigen. Dann aber besitzt ein einsamer Mensch die Sicherheit, dass jemand für ihn da war. Wenn das Schweigen nicht aufhört, sagt Margret: „Ich verabschiede mich jetzt.“
Jede Situation hat ihre eigenen Regeln. Das ist der Kern ihrer Arbeit. „In dem Moment, in dem jemand anruft, nehme ich ihn, wie er gerade ist. Ich stelle ihm meine Gefühle zur Verfügung.“ Telefonseelsorge ist kein Beratungstelefon, dieser Unterschied ist Margret ganz wichtig. Der Satzbeginn „Sie müssen...“ wird nie in den Gesprächen von Margret und ihren Kollegen auftauchen. Sie greift Gedanken des anderen auf, sie verstärkt vielleicht diese Gedanken, aber sie gibt niemals eine Richtung vor.
In ihrer letzten Schicht hatte sie einen Kriminellen am Telefon. Der Mann sagte, er habe eine Straftat begangen, das quäle ihn, er müsse jetzt darüber reden. Die Polizei wisse nicht, dass er der Täter sei, aber er spüre inneren Druck.
Alls, was Margret erfährt, bleibt bei ihr
Margret hat eine Schweigepflicht, alles, was sie erfährt, bleibt bei ihr. Sie wird auch niemals jemanden zu einem Geständnis überreden. Aber sie kann reagieren auf den anderen. „Wenn sich das Gespräch dahin entwickelt, dass der andere sagt, er sollte ja eigentlich zur Polizei gehen, dann kann ich diesen Gedanken aufgreifen“, sagt Margret. Aber mehr nicht. Grundsätzlich ist alles an Themen möglich, auch das gehört zum Kern der Telefonseelsorge. „Nur dann habe ich eine Chance, den anderen zu erreichen“, sagt Margret. „Nur dann kann ich versuchen, mit dem anderen den nächsten Schritt zu entwickeln und zu schauen, wie es am besten weitergehen kann.“
Manchmal ist dies freilich das Letzte, was sie will. Bei Leuten zum Beispiel, die nur anrufen, um ihre Aggressionen los zu werden und die Telefonseelsorge als emotionalen Blitzableiter missbrauchen. Da legt Margret dann ziemlich schnell auf. Anderen Anrufern, genauso unangenehm, gibt sie zumindest noch einen guten Rat auf den Weg. Sie sagt dann: „Rufen Sie besser eine Sex-Hotline an, wenn sie sich selbst befriedigen wollen.“ Keine Frage, So lange man verdächtige Geräusche korrekt interpretiert, ist das die passende Reaktion. Sie ist nicht ganz so passend, wenn man bei der Interpretation daneben liegt. Das erkannte Margret eindrücklich, als ihr mal unvermittelt eine empörte Männerstimme entgegendonnerte: „Was fällt Ihnen ein, Unverschämtheit. Ich stehe hier in einer Telefonzelle.“
Nähe zu zeigen und zugleich Distanz zu wahren, das ist wichtig
Unfreiwillig hat sie damit aber auch ihre persönlichen Grenzen noch deutlicher erkannt und definiert als ohnehin schon. Diese Fähigkeit ist enorm wichtig für ihre Arbeit. Die Juristin und Telefonseelsorgerin kann eine innere, unsichtbare Wand zwischen sich und die Probleme der anderen schieben. Das war nicht immer so. Es hat gedauert, bis sie sich klar gemacht hat, dass die Probleme, mit denen sie konfrontiert wird, nicht ihre Probleme sind. Sie kommt ja mitunter selber aus einem konfliktbeladenen Alltag. Vielleicht hatte sie vor ihrer Schicht Streit mit ihrem Mann, da ist es nicht so einfach, ein Gespräch über familiäre Probleme mit der nötigen Distanz zu führen. Vor allem Gespräche über Suizid waren für sie am Anfang besonders schwierig. In ihrer Familie gab es Fälle von Suizid, da mischen sich schnell unerwünschte Bilder in so ein Gespräch.
Die professionelle Ausbildung dient auch dazu, genau diese Distanz aufbauen zu können. Ein Jahr lang dauert die Schulung, bezahlt von der Diakonie Berlin-Brandenburg. „Ich habe sehr viel über mich gelernt“, sagt Margret. „Was bin ich? Was sind meine Schwierigkeiten im Leben?“ Solche Fragen. Aber sie lernte auch Gesprächsführung, die Priorisierung von Themen, den Umgang mit Menschen, die Selbstmordgedanken haben. Dinge, die sie alle nicht wusste, als sie bei einer Ehrenamtsbörse auf die Telefonseelsorge aufmerksam wurde. Die Telekom übernimmt alle Telefongebühren, für die Telefonseelsorge eine enorme Entlastung.
Manchmal kann auch Margret die Tränen nicht zurückhalten
Suizidgespräche sind unverändert die belastendsten Gespräche. Es gibt Menschen, die Schlaftabletten geschluckt haben und die Telefonseelsorge auffordern, einen Krankenwagen zu rufen. Ein Hilfeschrei in höchster Not. Margret informiert dann über ein zweites Telefon den Notarzt und bleibt beim Anrufer in der Leitung, bis Hilfe auftaucht. „Die meisten Menschen, die über Selbstmord reden, wollen nicht wirklich aus dem Leben scheiden“, sagt Margret. „Sie wollen, dass ihnen jemand zuhört.“
Manchmal hört Margret aber auch Menschen, die ihr sagen, dass sie Schlaftabletten geschluckt haben. Und die keine Hilfe wollen. Dann legen sie auf, Margret bleibt dann nur das Gefühl von Hilflosigkeit. Und manchmal weint sie einfach, überwältigt von der Situation. Einmal rief eine 94-jährige Frau an, die am Sterbebett ihrer einzigen noch lebenden Freundin saß. Die hatte Schlaftabletten genommen, sie wollte schon lange sterben. Die 94-Jährige rief keinen Arzt an, aber die Telefonseelsorge. Die emotionale Zerrissenheit zwischen dem Respekt vor dem letzten Wunsch der Freundin und dem Verlangen, der Sterbenden zu helfen, hatte sie völlig überfordert. „Bin ich jetzt eine Mörderin?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Die Freundin war Sekunden zuvor gestorben. Nein, antwortete Margret. Dann brach sie in Tränen aus.
Kirchliche Telefonseelsorge in Berlin und Brandenburg, Telefon: 030-440308224, Spenden: IBAN DE93 3506 0190 1562 022020
Dieser Beitrag ist auf der Seite "Menschen helfen" erschienen, jeden Donnerstag im gedruckten Tagesspiegel und jederzeit online im E-Paper. Weitere Texte zum Thema Ehrenamt finden Sie auf unserer Themenseite Ehrensache.