Berlin am Wochenende: U-Bahn-Baustelle Unter den Linden lockt viele Kunstliebhaber an
Beim Tag der offenen Baustelle sind im U-Bahnhof die Werke des Malers Christopher Lehmpfuhl am Sonntag zum letzten Mal zu sehen. Ein Besuch beim Künstler.
Ob die Perspektive wohl leidet, wenn der Wind die Leinwand immer wieder in die eine, dann plötzlich in die andere Richtung wölbt, dabei die am Keilrahmen festgemachten Spanngurte ruckartig spannen und das ganze Gebilde verziehen?
Den Maler stört das alles nicht, ein idealer Tag mit perfektem Licht. Selbst geradezu in Ölfarbe gehüllt, ist Christopher Lehmpfuhl mitunter gar nicht von seinem werdenden Bild zu unterscheiden, wenn er davor steht – kaum eine Camouflage könnte besser funktionieren.
Die Distanz zur Farbe hat er vor zehn Jahren abgelegt: 30 Jahre lang malte er mit Pinsel und anderen üblichen Mitteln. Irgendwann sei ihm versehentlich zu viel Farbe auf die Leinwand gekommen, erzählt er, und um schnell ihr weiteres Herunterrinnen zu verhindern, habe er kurzerhand zugegriffen – das Resultat gefiel ihm. Heute greift er ohne Pinsel oder andere Hilfsmittel, nur mit Einweghandschuhen, in Berge ineinander übergehender Farbhaufen.
„Ich mache das Licht greifbar“
Wenn etwa Hegel vom „Begreifen“ schreibt, unterstreicht er den Anteil des Greifens, der den Begreifenden erst die Form der Sache wahrnehmen lässt. „Ich mache das Licht greifbar“, sagt Lehmpfuhl. Am liebsten würde er noch die dünne Gummischicht entfernen und mit bloßen Fingern malen, aber „das Zeug ist hochgiftig“. Viele Maler ekeln sich davor, erklärt er, aber man muss den Griff in die Farbe aushalten können, findet Lehmpfuhl. Und es abkönnen, so von Farbe bedeckt zu sein. Abgesehen von den Schuhen ist die Kleidung kein zweites Mal zu gebrauchen, wird gleich im Anschluss entsorgt.
Er blickt auf Berlin – vom Bertelsmann-Gebäude Unter den Linden, genauer: über den Linden, denn Lehmpfuhl malt auf dem Dach des Gebäudes sein etwa hundertzwanzigstes Berlinbild. Auf dem Bertelsmann-Dach arbeitet er seit April 2014 – vorher hatte er schon regelmäßig auf der Humboldtbox gestanden, um den Abriss des Palastes und den Bau des Stadtschlosses zu begleiten, musste aber den Standort wechseln, als der Schlossbau die Box zu überragen begann und ihm die Perspektive vermieste. Thomas Rabe, Vorstandsvorsitzender bei Bertelsmann, habe ihm das Dach als Lösung angeboten, von dem aus scheinbar alle Postkartenmotive dieser Stadt auf einmal zu sehen sind.
Auch bei Minusgraden weiter malen
Die Bedingungen an diesem Tag sind ideal. Entgegen der Prognosen bleibt nicht nur der Regen aus, immer wieder strahlt auch die Sonne kräftig durch, blauer Himmel kommt zum Vorschein, wirkt aber zerfasert in einem löchrigen Sieb aus Wolken, die heute zwischen dunklen Schwarz- und hellen Weißtönen eine seltene Dynamik aufweisen. Lehmpfuhl malt heute einen Ausschnitt des Horizonts, den er zuvor schon fünfmal gemalt hat: im Zentrum das Schloss mit seinem heute grellgelb leuchtenden Baugerüst. Diesen Farbklang habe er bei diesem Blick noch nicht gehabt, sagt er, alles da: „Dramatik, Kontraste, tolles Licht“.
In der oktoberlichen Kälte lässt sich kaum ein Stift über mehrere Zeilen sauber führen, ohne dass die Feinmotorik aussetzt. Anwesende klammern sich an heiße Teetassen – Lehmpfuhl macht das alles nichts aus, auch nach Stunden nicht. Er malt noch bei minus 20 Grad, in Island oder Irland, in den Bergen, im skandinavischen Norden, bei Regen und Sturm, da komme er auch durchaus mal an körperliche Grenzen, sagt er, aber es mache eben Spaß.
Und nicht nur das – es entstehe auch eine Beziehung zum Ort, die beim Malen in der sicheren Wärme des Ateliers nicht denkbar wäre. Es sei ein Privileg, da sein zu dürfen, körperliche Erinnerungen sammeln zu können, die wertvoller sind als bloß visuelle Eindrücke.
Man beuge und falte sich die Welt
Obwohl das, was er tut, eigentlich fast weniger Malen ist als ein skulpturales Formen, Kneten und Massieren der Farbmassen. Und weil gar nicht nur er alle Entscheidungen trifft, sondern, wie es bei Pleinair-Malerei üblich ist, sich die Umwelt mit einschreibt, etwa wenn der Wind die Leinwand plötzlich gegen die sich ihr nähernde Hand schleudert, der Regen oder gar Hagel auf die Ölfarbe hämmert und ihre Haftung am vorgesehenen Ort erschwert – weil also vieles aus der Malsituation sich auf ganz anderen Wegen als über ihn, den Maler, in das Gefüge einschreibt, hat die Tätigkeit etwas immanent Dokumentarisches, das über die bloße Abbildung einer Szenerie hinausgeht. Das Bild ist kein aus der Entfernung gemachtes Abbild der Szene, sondern Teil von ihr.
„Ich male ja auch Bilder, keine Abbilder“, sagt er. Einerseits rücke man sich als Maler schon die Welt zurecht, beuge und falte sie, um eine stimmige Bildkomposition zu erlangen. Andererseits male er aber auch akribisch genau. So sei er, da er den Ort schon mehrfach gemalt habe, mit den unscheinbarsten Details so vertraut, dass ihm Veränderungen im Kleinen auffielen, die die Bilder wiedergeben. Allein an Richtung und Winkel der Schatten sind Sonnenstand, Tages- und Jahreszeit genau rekonstruierbar.
Den heute entstehenden Teil seines Berlinzyklus, wie jedes andere Bild daraus, isoliert zu betrachten, mache eigentlich wenig Sinn. Es gehe bei dem Projekt darum, wie sich die Stadt verändert und wir als Gesellschaft mit Geschichte umgehen, Teile ausradieren, durch andere ersetzen oder bewahren – diese Dimension erschließe sich erst, wenn man zumindest einen größeren Teil der Serie vor Augen hat.
Ausstellung im U-Bahnhof Unter den Linden
Eben dies wird in der Ausstellung „Bau X Kunst“ möglich sein. Bertelsmann und BVG stellen einen wesentlichen Ausschnitt der Berlinbilder am Wochenende beim Tag der offenen Baustelle im künftigen U-Bahnhof Unter den Linden aus, etwa 200 Meter vom Dach entfernt, auf dem sie gemalt wurden. Speziell der Sammlung Würth sei zu verdanken, dass wesentliche Eckpfeiler der dokumentierten Bauphasen, der Palast der Republik und das Stadtschloss gleichermaßen zu sehen seien.
Für BVG-Chefin Sigrid Nikutta sind der Schlossbau und der Lückenschluss der U 5 „unverzichtbarer Bestandteil für eine erfolgreiche Zukunft Berlins“. Apropos Zukunft: der Zyklus wird, wenn das Schloss fertig ist, konzeptuell abgeschlossen sein. Ein Grund dafür, mit dem Malen der Serie aufzuhören, ist das für Lehmpfuhl aber nicht. Der Wandel wird schließlich auch nicht enden.
Tag der offenen Baustelle im U-Bahnhof Unter den Linden, 27./28. Oktober, jeweils 10-20 Uhr und 9-14 Uhr.
Ende 2020 sollen die ersten Züge halten
Der U-Bahnhof Unter den Linden ist einer von drei Bahnhöfen beim Lückenschluss der U 5 zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor. An der neuen Station halten später auch die Züge der U 6 (Alt-Tegel – Alt-Mariendorf). Auf der U 5 sollen die ersten Züge nach derzeitigem Stand Ende 2020 halten.
Während die Station Unter den Linden im Rohbau fertig ist und bereits ausgebaut wird, laufen am benachbarten Bahnhof Museumsinsel die Erdarbeiten noch auf Hochtouren. Diese Station wird bergmännisch gebaut, weshalb der Boden ringsherum vereist worden ist. So soll verhindert werden, dass Grundwasser eindringt. Für den Bahnhofsbau müssen drei Stollen ausgehoben werden; der mittlere, in dem später die Gleise liegen, ist durchbrochen, im Dezember beginnen die Arbeiten an den Seitenstollen für die künftigen Bahnsteige.
Treten hierbei keine Probleme auf, könne der Zeitplan eingehalten werden, sagen die Planer. Wenn nicht, würden die Züge vorübergehend den Bahnhof ohne Stopp passieren. Vom Baufortschritt an diesem Bahnhof hängt auch der Kostenplan ab. Bisher sind 525 Millionen Euro für die rund zwei Kilometer lange Strecke veranschlagt. Es könnte noch mehr werden. kt