Suizid nach Mobbing: Trauer und Empörung bei Mahnwache für Elfjährige
Nach dem Suizid einer Grundschülerin versammeln sich 150 Menschen vor der Schule des Kindes. Ihre Kritik: Mobbing ist kein Einzelfall.
Kerzen, Teddys, erschütternde Abschiedsworte. Nach dem Suizid einer elfjährigen Schülerin an der Hausotter-Grundschule in Reinickendorf drücken viele Menschen am Sonnabend vor dem Schulgebäude ihre Anteilnahme aus. Das Mädchen hatte sich vermutlich nach massiven Mobbing-Angriffen das Leben genommen.
Viele sind gekommen. Eltern, Anwohner, Anteilnehmende, Journalisten. Auch ein paar Kinder sind dabei, obwohl von den Veranstaltern ausdrücklich nur Erwachsene gewünscht worden waren – aus Angst vor einer Traumatisierung. Etwa 150 Menschen drängelten sich um den kleinen Platz vor dem Eingang der Grundschule am Hausotterplatz in Reinickendorf, unweit des S-Bahnhofs Schönholz. Auf den Treppen haben Leute Kerzen abgestellt, dazu Kuscheltiere und Blumen, dazwischen ein Bild der elfjährigen Schülerin.
Vor der Gedenkstätte steht Carsten Stahl, prominenter Mobbing-Gegner, und hält eine Rede. Ohne Mikrofon, aber er spricht so laut, dass er trotzdem gut zu verstehen ist, wenn gerade kein Flugzeug über den Köpfen der Anwesenden zum nahegelegenen Flughafen fliegt. In anfängliche Stille und Trauer mischen sich schnell auch Zorn und Empörung.
Stahl hat die Mahnwache für das Mädchen gemeinsam mit Elternvertretern der Schule organisiert. Er macht die Bildungspolitik in Deutschland für den tragischen Fall verantwortlich und fordert Berlins Schulsenatorin Sandra Scheeres auf, endlich zu handeln und etwas gegen Mobbing zu unternehmen. „Mobbing tötet Menschen!“, ruft Stahl und erntet Applaus. „Jeden Tag leiden Menschen darunter. So kann, darf und wird es nicht weitergehen, dafür werden wir kämpfen!“ Die Stimmung im Publikum heizt sich allmählich auf, die Zwischenrufe werden lauter und aufgebrachter. Mehrere Leute schreien sich gleichzeitig ihren Frust von der Seele: über schlechte und zu wenige Lehrkräfte, über taube Ohren, über Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen wollen, aus Angst vor den Mitschülern.
"Das kann so nicht weitergehen"
Fälle, in denen Kinder einander schikanierten oder mit Psychoterror quälten, seien an der Schule keine Einzelfälle, sagt der Vater eines Mitschülers der Elfjährigen. Die Schulleitung habe systematisch versucht, das massive Mobbing sowie die Gewalt einer Lehrerin gegen Schüler unter den Teppich zu kehren, kritisiert er. Das zeige auch ihr Umgang mit dem tragischen Vorfall. „Wir wussten anfangs gar nichts.“
Am vergangenen Donnerstag seien alle Schüler kurz nach 13 Uhr heimgeschickt worden. Manche hätten zuhause vor verschlossenen Türen gestanden, weil die Eltern nicht informiert worden seien. Die Kinder hätten nur einen Zettel mitgebracht, der über den Suizid informierte. Seither habe die Schule nichts mehr kommuniziert. „Das kann so nicht weitergehen“, fordern am Abend auch andere Mütter und Väter.
Mobbing muss in den Schulen von früh an thematisiert werden. Nur so kann auch bei den Kindern ein Bewusstsein für die möglicherweise schrecklichen Folgen geschaffen werden.
schreibt NutzerIn lutz.wehmeyer
Die Leiterin der Hausotter-Grundschule, Daniela Walter, nimmt ebenfalls an der Mahnwache teil. Auf Nachfrage des Tagesspiegels und anderer Journalisten widerspricht sie dem Vorwurf, Mobbingfälle würden heruntergespielt. Ja, es gebe Mobbing, sagt sie. Darum kümmerten sich aber Sozialarbeiter und Konfliktlotsen an der Schule. Es werde alles getan, um solche Vorfälle zu verhindern. Walter weiter: „Jeder kann sich auch an mich wenden. Ich habe offene Ohren.“
Vom Suizid aus der Presse erfahren
Drei Mütter von Kindern der Grundschule, die nicht namentlich genannt werden wollen, sehen die Lehrer in der Pflicht, gegen Mobbing vorzugehen. „Wenn die Kinder in der Schule sind, stehen sie unter der Aufsicht der Lehrer“, sagt eine. Allerdings gebe es da einen akuten Mangel. Ob Mobbing ein Problem speziell in dieser Schule ist? Nein, sagt eine der Mütter, das gebe es überall. Sie werfen der Hausotter-Grundschule aber Vertuschung vor. In dem Brief, den die Eltern zum Tod der Elfjährigen bekommen haben, habe es geklungen, als sei das Mädchen nach Krankheit gestorben. Von dem vermeintlichen Selbstmord hätten sie erst am Samstag aus der Presse erfahren.
Auch Burkhard Dregger (CDU), Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus, ist gekommen und hält eine Kerze in der Hand. Die betroffene Schule befindet sich in seinem Wahlkreis. „Mein Eindruck ist, das ist kein Einzelfall, sondern ein generelles Phänomen“, erklärt er. „Der Umgang der Menschen miteinander verändert sich insgesamt, das müssen auch Polizeibeamte oder Feuerwehrleute spüren. Man muss mit der Prävention solchen Verhaltens bei den Jüngsten anfangen.“ Und natürlich müssten Schulen die Angebote zu einer solchen Prävention auch annehmen.
"Den Ernst noch nicht begriffen"
Mehr Aufmerksamkeit für das Thema hatte zuvor bereits Landesschülersprecherin Eileen Hager gefordert. Die Prävention an den Schulen sei noch nicht ausreichend: „Lehrer und Mitschüler haben den Ernst noch nicht begriffen.“ Untereinander wären Schüler durchaus bereit, darüber zu sprechen. „Aber Lehrer machen Mobbing zum Tabuthema.“ Sie spielten Vorfälle herunter. Schulen bräuchten mehr Sozialpädagogen, die mit den Schülern über Mobbing sprechen müssten. Zudem findet es die Landesschülersprecherin wichtig, dass Lehrer den Schülern auch eine gewisse Wertschätzung entgegenbringen. „Kinder und Jugendliche achten sehr darauf, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet.“ Dann würden auch die Schüler mehr aufeinander achten.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Heinz-Peter Meidinger will Sensibilität, Austausch der Lehrer und eine Achtsamkeitskultur, in der auch Mitschüler aufeinander aufpassen, fördern. Mit den sozialen Netzwerken habe sich die Intensität des Mobbings verändert. Die Cybermobbing-Problematik sieht auch Landeselternsprecher Norman Heise. Wenn Mobbing in sozialen Medien geschehe, sei es dem Schulhof ein Stück weit entrückt. „Soziale Netzwerke tragen dazu bei, dass Mobbing in Anonymität stattfinden kann.“
Hilfsangebote
Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.
Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de
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