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Regimegegner. Tom Sello engagierte sich in den achtziger Jahren in der Umweltbibliothek und arbeitete später am Archiv der DDR-Opposition.
© Thilo Rückeis

Bundesverdienstkreuz für DDR-Bürgerrechtler: Tom Sello: Der Widerständige

Der DDR-Bürgerrechtler Tom Sello erhält heute von Bundespräsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz. Er zeigte auf, wie bei der letzten Volkskammerwahl 1989 gefälscht wurde.

Tom Sello, der Bürgerrechtler, den man nur in Pullovern und T-Shirts kennt, wird sich womöglich einen protokollgerechten Anzug besorgen müssen, wenn er heute zur Ordensverleihung zum Bundespräsidenten geht. 14 Frauen und 17 Männer werden zum Tag der Deutschen Einheit von Joachim Gauck mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Aus Berlin sind die Soziologin Jutta Allmendinger, die Schauspielerin Suzanne von Borsody, der Schriftsteller Klaus Kordon, die Frauenrechtlerin Christa Stolle und eben Tom Sello dabei. Diese Auszeichnung sei, sagt der 56-Jährige, eine Würdigung der Arbeit der Umweltbibliothek, der Robert-Havemann-Gesellschaft und jener Mitstreiter, die das Archiv der Opposition in der DDR aufgebaut haben.

Tom Sello machte öffentlich, wie bei der letzten Volkskammerwahl gefälscht wurde

Tom Sello sitzt zusammen mit dem Geschäftsführer der Robert-Havemann-Gesellschaft, Olaf Weißbach, im Hinterhaus eines Altbaus in der Schliemannstraße zwischen Akten, Büchern, Plakaten, Computern, Laptops. Hier pocht das Herz der DDR-Opposition, die keine mehr ist, weil sie mithalf, den Grund ihrer Gegenwehr abzuschaffen. Die DDR ist Historie, die gesammelten Werke der Havemann-Gesellschaft sind Gegenwart, denn immer mehr Interessenten, vor allem junge, fragen danach, wie das mit der Opposition in der DDR funktionierte. „Inzwischen werden unsere Dokumente – 500 laufende Meter Schriftgut – als nationales Kulturgut betrachtet“, sagt Tom Sello, und der Geschäftsführer freut sich über diese Anerkennung eines zivilgesellschaftlichen Engagements.

„Was man hier haben muss, ist Durchhaltevermögen und ein langer Atem – beides zeichnet Tom Sello aus, ich wüsste nicht, ob die Havemann-Gesellschaft noch existieren würde, wenn wir nicht Tom Sello hätten“, meint Olaf Weißbach. Dennoch schüttet er Tränen in den Becher der Freude: „Mir tut es leid, dass ich am Jahresende einen so hervorragenden Mitarbeiter entlassen muss“ – wenn es keine neuen Projekte gibt. Von deren Finanzierung lebt die Gesellschaft, die eine langfristige Förderung als Archiv der DDR-Opposition anstrebt.

In der Begründung für Tom Sellos „Verdienstkreuz am Bande“ heißt es, er sei ein wichtiger Zeitzeuge, und zwar als Beispiel eines DDR-Bürgers, der der SED-Diktatur die Stirn bot. Überdies kuratierte er die Open-Air-Ausstellung über die friedliche Revolution auf dem Alexanderplatz, „die 2009 und 2010 große, alle Erwartungen übertreffende Resonanz gefunden hat und von Millionen Menschen gesehen wurde“. Deshalb besteht der Plan, diesen Geschichtsunterricht über den Einfluss der Opposition am Untergang der DDR wiederzubeleben – als Dauerausstellung in dem Stasi-Komplex in Lichtenberg, vor dem Haus 1, dem Dienstsitz des Stasi-Ministers Erich Mielke.

Während die Stasi in ihren Akten das Herrschaftswissen des Staates über ihre Bürger konservierte, drücken die Papiere, zwischen denen sich Tom Sello bewegt, Hoffnungen, Wünsche, Vorstellungen und Aktivitäten der Gegner der DDR aus. Dazu zählen Zeitzeugeninterviews, Flugblätter, Fluchtpläne und viele andere Dokumente aus dem ganzen Land.

„Die Kernarbeit war das Zusammentragen der Zeugnisse von Opposition und Widerstand, die hier bewahrt und für die Forschung verwendet werden“, sagt Sello. Bis zu 800 Anfragen pro Jahr bringt der Postbote in die Schliemannstraße. Eine Facette des widerständigen Verhaltens ist die Auflistung der Fälschungen bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989, wo Tom Sello zu den aufmerksamen Beobachtern der Auszählung gehörte und über das Westfernsehen öffentlich machte, wie der Staat das große Schummeln veranstaltete: „Wahlfall“ steht auf einer Akte mit einer Urne auf dem Titel und dem Hinweis: „Hier ruht die Demokratie“.

Nicht als Oppositioneller geboren

Wann hatte sich die DDR für den Mann aus Großenhain erledigt? Als er sich nach dem Grundwehrdienst nicht als Reservist der Nationalen Volksarmee verpflichten lassen wollte. Er durfte nicht studieren, kam 1979 als Maurer mit Abitur nach Berlin, begann 1987 ein Fernstudium im Ingenieurbau. 1980 begann er, in oppositionellen Friedens- und Ökologiegruppen mitzuarbeiten, verbreitete Flugblätter gegen ein neues Wehrdienstgesetz, arbeitete in der Umweltbibliothek, die 1993 in die Trägerschaft der Havemann-Gesellschaft kam. 1989 stand er Mahnwache in der Gethsemanekirche, 1990 besetzte er mit Gleichgesinnten das Stasi-Archiv.

War das alles sehr mutig? „Nee“, sagt Tom Sello, „ich musste mich bei vielen Aktivitäten irgendwie überwinden, denn ich bin nicht als Oppositioneller geboren worden.“ Die Entwicklung kam Schritt für Schritt – und schuld war der Staat, mit dem Tom Sello eines Tages nichts mehr zu tun haben wollte.

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