Berlin: Theorie im Kopf, Praxis in den Fäusten
Zwischen Gerichtssaal und Straße: Oliver Tölle ist Justiziar der Polizei – doch zu Demos wie am 1. Mai zieht er den Kampfanzug an
Der Mann, auf dessen Schreibtisch die Dokumentation zum 14. Verwaltungsrichtertag liegt und Band 1 des Verwaltungsrechts, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und sagt, er sei kein Rambo, „aber ich kann es eben“. Was er meint: handgreiflich werden.
Oliver Tölle ist ein kleiner Mann, aber bullig, er boxt. Die Haare trägt er raspelkurz, ein bisschen Grau ist drin, er ist 48. In der Telefonzentrale der Polizei haben sie, als man mit ihm verbunden werden wollte, gesagt: Das ist aber ein ziemlich hoher Beamter. Kriminaldirektor, drei goldene Sterne. Er ist Volljurist mit zwei Staatsexamen und Justiziar der Polizei. Eigentlich ein Schreibtischjob, aber das wäre nichts für Tölle. Er geht mit raus, wenn Einsätze sind: jedes Jahr am 1. Mai, immer wieder zu Nazi-Aufmärschen, vor zwei Jahren zur BVG-Busentführung, dieses Jahr auch zum 8. Mai. Als Jurist und Polizist sei er Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, sagt Tölle.
Sein Büro ist im Polizeipräsidium am Platz der Luftbrücke, ein schmales Zimmer mit meterhohen Wänden. Zwei Tische, beide bedeckt mit ausgeblichenen Aktendeckeln, rosa und lindgrün, auf vielen steht „Eilt“, aber nur, weil es keine anderen gab. Auch Tölles Telefon wirkt unmodern, spielzeughaft. Aber die Fenster stehen offen, laue Luft weht herein und Tauben gurren, ganz friedlich ist es.
Die Berliner Polizei steuert auf zwei „Großlagen“ zu: die Walpurgisnacht mit anschließendem 1. Mai und eine Woche danach den 60. Jahrestag des Kriegsendes. Heikle Termine, die von den Einsatzleitern viele schnelle Entscheidungen verlangen. Deshalb ist Tölle draußen bei ihnen, im grünen Kampfanzug. Beispiel Nazimarsch durch Köpenick: Gegendemonstranten wollen über die Seitenstraßen durchbrechen, Gewalt liegt in der Luft, es ist laut, hektisch, Parolen werden gebrüllt, Polizisten schreien in ihre Funkgeräte – und dann bemerken die Beamten Pullis mit dem Aufdruck „Ansdapo“. Was tun? Ist das Tarnung für das Kürzel der nationalsozialistischen Partei NSDAP und verboten, oder soll man das in dieser Situation besser ignorieren, um eine Eskalation zu vermeiden. Oder: Was, wenn im abgesperrten Gebiet zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten eine Kirche steht, und dort gerade jetzt ein Gottesdienst beginnt? Kann und darf man das unterbinden? Wo bleibt dann die Religionsfreiheit? Juristische Fragen, keine moralischen. „Wir sind nicht die Sittenwächter der Nation“, sagt Tölle, „wir setzen Grundrechte durch.“ Solche Sätze, knapp und stark, sagt er gern.
Das Telefon auf Tölles Tisch klingelt. Der Polizeipräsident ist dran, er hat eine Frage zum 1. Mai. Als Tölle auflegt, sagt er, es sei schön, gebraucht und gefragt zu werden. „Das sag ich ganz ehrlich.“ Er grinst. Eitelkeit muss man ihm nicht unterstellen, er kokettiert mit seiner Wichtigkeit. Ein bisschen Macker ist er auch, aber er ist verlässlich. Was er sagt, das gilt, und wenn sich das später als falsch erweist, „stecke ich die Prügel dafür ein.“ Nicht die, die seinem Rat gefolgt sind.
Auch, wenn es manchmal so aussieht – Tölle sagt: Die Rechten bestimmen nicht unseren Alltag. Ihr Auftreten ist für ihn immer wieder Anlass zu fragen: Wie ist Hitler möglich gewesen? Auch heute müsse man wachsam sein, sagt er, merken, wann es kippt. Es gebe da ein Foto, „das habe ich immer vor mir“. Es zeigt Carl von Ossietzky im KZ, vor ihm türmt sich ein SA-Mann auf. Der Denker und der Scherge. Was ist damals schief gelaufen?
Tölle ist geborener West-Berliner. Nach der Schule hat er Jura studiert, Richter oder Anwalt wollte er aber nie sein. Richter nicht, weil er gern Partei ergreift, und Anwalt nicht, weil er nicht gern für die Falschen Partei ergreift. Dem „Arsch“, der betrunken Auto gefahren ist, den Führerschein zurückzuerstreiten – nicht mit ihm. Er ist zur Polizei gegangen. Sofortbearbeitung, das heißt: Bereitschaft, Tatorte sichern, Blut sehen. Seinem Vater, dem Regisseur Tom Tölle, hat das anfangs nicht gefallen, inzwischen ist er stolz darauf, was der Sohn aus seinem Job gemacht hat. 1998, die Versetzung in die juristische Abteilung hat man Tölle aufgedrängt, er wollte gar nicht, zu weit weg vom Polizeialltag. Als er anfing, weitete er das Arbeitsfeld aus, nahm von beidem etwas: Gericht und Straße. Dieser Mittelweg, den Tölle sucht, findet sich oft auch in seinem Privatleben. Da kommt zusammen, was auch Widerspruch sein könnte. Die Familie väterlicherseits war jüdisch geprägt, zur Familie mütterlicherseits gehörten Wehrmachtsoffiziere. Als Jurist muss er abwägen, als Polizist handeln. Der mehrfach geprüfte Akademiker fühlt sich wohl im polternden Polizeijargon, „kann nicht aufnehmen, noch mal kommen“, bescheidet er knapp einem Anrufer, er zählt kaum Studierte zu seinen Freunden, teilt aber deren Hobbys wie gutes Essen und gute Weine. Er zitiert zum Thema Meinungsfreiheit Voltaire: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Und sagt zum Thema rechtzeitige Entscheidung: „Ich geh ja auch nicht mit dem Brathähnchen zum Tierarzt.“
Es sind die letzten Tage vor den großen Einsätzen. Falsche Beschlüsse seien gefährlich, weil sie Vertrauen vernichten, sagt Tölle. Wenn er die Uniform anzieht, hat er die Theorie im Kopf, aber im Angesicht der Horden hilft ihm mehr das Vertrauen in die eigene Kraft. Über seine Arbeit sagt Tölle: Es soll Spaß machen. Er trinkt einen Schluck Wasser. Aus einem alten Senfglas.
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