Hufeisensiedlung in Britz: Tautes Heim
Die Hufeisensiedlung in Neukölln gehört zum Weltkulturerbe. Nun hat ein Paar dort ein Haus im Stil der 20er Jahre renoviert. Ein Besuch über Nacht.
Was für ein leuchtendes Blau! Beim Aufwachen wird der Besucher von der Farbe an den Schlafzimmerwänden beinahe geblendet. Die nächste Verwirrung: ein Blick auf den Kalender, der auf dem Schreibtisch steht. Er zeigt den richtigen Tag, nur die Jahreszahl irritiert: 1931. Wie es damals wohl hier war, als die Erstmieter ihr neues Domizil bezogen? Einfache Leute werden es gewesen sein, kleine Angestellte oder Beamte, vielleicht mit Kindern. Ob ihnen das Blau gefiel?
Mochten sie das kleine Haus, das vom flachen Pultdach bis zur Originaltürklinke denkmalgerecht wiederhergestellt wurde und in der Britzer Hufeisensiedlung auf Gäste wartet? Wer sich darin 80 Jahre später einquartiert, findet sich unversehens auf einer Zeitreise in die späten 20er und frühen 30er Jahre: in die Ära des Architekten Bruno Taut, der mit seinen Berliner Reformsiedlungen für Kleinverdiener Tausende von Wohneinheiten entwarf. Heute steht der Neuköllner Wohnkomplex auf der Unesco-Weltkulturerbeliste.
Schon nach der Anreise, als man durch den eisigen Ostwind von der U-Bahn Blaschkoallee herstapfte und das beheizte Häuschen betrat, lenkte der taubenblaue Schlafraum im Obergeschoss die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Der braunrote Kachelofen und die Fußbodendielen setzen einen kräftigen Gegenakzent. Ein Stahlrohrsessel steht neben einem Beistelltisch und Wilhelm Wagenfelds berühmter Bauhaus-Lampe.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Design-Ikonen sind hier in der Unterzahl. Das „Taute Heim“, wie es die Vermieter Katrin Lesser und Ben Buschfeld nennen, ist kein musealer Showroom. Die beiden haben überlegt, wie es damals wirklich ausgesehen haben könnte, als die ersten Mieter einzogen. Bruno Taut war kein Radikalverfechter modernistischer Formgebung, sondern Realist. 1924 schrieb er über den Frust von Architekten: „Wenn sie die Leute einziehen sahen mit ihren Massen an Möbeln, mit dem unendlichen Krimskrams und Gerümpel, so mussten sie resignieren und sich schließlich damit zufrieden geben, dass ihre Bauten und Siedlungen wenigstens außen ein gutes Gesicht hatten.“
Dieser Stoßseufzer könnte auch heutigen Denkmalpflegern von den Lippen kommen. In der 1925 bis 30 erbauten Hufeisensiedlung sind die Fassaden denkmalgerecht instand gesetzt. Die mehrgeschossige „Rote Front“ an der Ostflanke der Siedlung strahlt in Originaltönen. Rhythmisch wechseln gelbe, weiße, rote und blaue Fassaden an den niedrigeren Häuserzeilen, die das eigentliche Hufeisen im Zentrum umgeben. Aber in den eigenen vier Wänden richtet sich jeder Mieter nach Gutdünken ein – ob Gelsenkirchener Barock, Ikea oder Country-Style.
Den Besuch eines „verwöhnten Großstädters“ in einem modern eingerichteten Heim stellte sich Taut „wie ein erfrischendes Bad“ vor. Diesem Grundsatz haben sich seine zwei leidenschaftlichen Nachahmer verpflichtet, tausende Arbeitsstunden und ein kleines Vermögen in ihren Traum investiert. Obwohl der am Anfang gar nicht vorzeigbar aussah. Als die Gartendenkmalpflegerin und der Grafikdesigner 2010 das würfelförmige Haus, das am Ende einer Reihenhauszeile aus einer Bauflucht hervorspringt, erstmals betraten, erblickten sie: braune 70er-Jahre-Fliesen im Bad, großblumige Tapete im Wohnzimmer, Billigspüle in der Küche und Schimmel hinter der Wanne. Ein hässliches Entlein war die Wohnung. „Da muss man natürlich hindurchsehen“, sagt Katrin Lesser. „Die Originalsubstanz war noch da: alle Fenstergriffe, die alten Kachelöfen, Türen, so viel war nirgends sonst erhalten. Ein Horror, wenn ein anderer Hauskäufer das alles herausgerissen hätte!“ Ihr Ehrgeiz war angestachelt. Die beiden leben selbst seit 15 Jahren in einem anderen Haus der Hufeisensiedlung, nur 100 Meter entfernt, und sind im Förderverein aktiv.
Über Nacht stand der Entschluss fest, dieses Kleinod zu retten. Die Idee eines Museums erwies sich als nicht realisierbar. Nun soll die Vermietung als Ferienhaus wenigstens einen Teil der Renovierungskosten wieder einspielen. Die Nachbarn verfolgen das Ausnahmeprojekt mit Wohlwollen. Es ist das einzige Ferienhaus weit und breit und nimmt keinen hier dringend benötigten Wohnraum weg. Wer aus der U7 aussteigt, steht nicht im Verdacht, ein krawalliger Partytourist zu sein, sondern ein Designinteressierter, der erleben will, wie man in einem Weltkulturerbe schläft.
Die ersten Architekturfans haben sich begeistert im Gästebuch verewigt. Eine laut Eintrag „alte Britzerin“ fühlte sich sechs Jahrzehnte zurück in ihre Jugend versetzt. Eine Kunsthistorikerin bezog hier Quartier, um ihren Vortrag über den „Zehlendorfer Dächerkrieg“, den Streit zwischen Flachdach- und Spitzdachverfechtern der 20er Jahre vorzubereiten.
Nach akribischen Quellenrecherchen hat Katrin Lesser auch dem Garten sein Gesicht zurückgegeben. Der Apfelbaum vor der Terrasse passt streng genommen nicht ins originale Bild, durfte aber trotzdem bleiben. Aus der Ernte des letzten Herbstes haben die Besitzer Apfelmarmelade gekocht. Ein Gläschen davon erwartet die Gäste auf dem Frühstückstisch.
Überhaupt, die Küche. Blaues Geschirr steht in der Anrichte, es stammt vom Trödler und darf seine Nutzungsspuren zeigen. Die Milch ist über Nacht hinter den Holzschiebetüren des „Naturkühlschranks“ unterm Fenster frisch geblieben. Dieser funktioniert durch die Außenkälte so gut, dass das Elektrokühlgerät getrost ausgeschaltet bleiben kann.
Der Komfort der Gegenwart, vom Toaster bis zur Spülmaschine, verbirgt sich in stilecht nachgebauten Küchenmöbeln und im erhaltenen Speisewandschrank. Ob der historische Elektroherd mit den alten Knöpfen funktioniert? Vorsichtig einen Emailletopf auf die Platte rücken, einen Knopf drücken – und der Herd geht an. Ein Spezialist hat den Dinosaurier aus der Frühzeit der elektrifizierten Hauswirtschaft aufgearbeitet. Für den braunroten Steinholzfußboden in der Küche reiste eigens aus Bayern ein in Bauhaus-Kreisen bekannter Ingenieur an und verarbeitete unter anderem Sägemehl, Sägespäne, Magnesiumoxid und wässrige Füllstoffe nach bekannten Regeln der Baukunst.
Als Vorbild für die Kücheneinrichtung diente eine Musterküche, die Bruno Taut für die Zehlendorfer Onkel-Tom-Siedlung entworfen hatte. Über die Interieurs der Hufeisensiedlung weiß man leider zu wenig. Alte Fotos, Grundrisse und Zeitschriftenjahrgänge wurden für die Restauratoren zum Kompass einer denkmalpflegerischen Gratwanderung. So entstand das große Doppelbett mit der Einbauschrankwand als Neuentwurf, gebaut nach einem Klappbett von 1929.
Dutzende Entscheidungen waren für Katrin Lesser und Ben Buschfeld zu treffen. Bruno Taut mochte keine Vorhänge. Aber hängten die einstigen Bewohner nicht trotzdem welche auf, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen? Die neu genähten, grauweißen Küchenvorhänge nehmen die horizontale Farbgliederung der Wände auf und passen sich wie ein Chamäleon ihrem Umfeld an.
In allen Räumen stößt man auf rechteckige Farbfenster mit freigelegten Partien des originalen Wandanstrichs. Eine Restauratorin hat Schicht für Schicht millimeterdünn mit dem Skalpell abgehoben, um den Ton zu finden. Noch nie zuvor war in einem Haus der Hufeisensiedlung eine wissenschaftliche Farbanalyse gemacht worden. Selbst Architekturhistoriker überraschten die Befunde. Das ehemalige Kinderzimmer kombinierte fröhliches Gelb mit einem kobaltblauen Kachelofen. Das Wohnzimmer setzte mit gedeckten Grüntönen auf Harmonie.
Da steht auch das Radio. Den wuchtigen Bakelit-braunen Kasten, Baujahr 1932, zum Laufen zu bringen, ist ein Abenteuer für sich. Zunächst brummt er nur minutenlang, dann dringen knarzend erste Töne durch den Äther. Wer es störungsfrei mag, stöpselt lieber einen MP3-Player an eine rückseitig versteckte Buchse, und der Rundfunkveteran tut als Lautsprecher seinen Dienst. An der Wand hängt ein Spruch: „Tautes Heim – Glück allein.“ Den hat Katrin Lesser selbst gehäkelt. So viel Ironie muss Bruno Taut aushalten, auch wenn er kaum etwas so hasste wie Gehäkeltes. Aber das ist eben heute modern.