Protest am Reichstag: Taubblinde demonstrieren für Anerkennung ihrer Behinderung
400 Taubblinde treffen sich am Reichstag zur weltweit ersten Demonstration, sie fordern die politische und rechtliche Anerkennung ihrer Behinderung. Denn viele von ihnen werden nicht richtig versorgt - dabei sind sie ohne Unterstützung hilflos.
Aus halb Deutschland sind die Taubblinden nach Berlin gekommen: aus Hannover, Bayern und Baden-Württemberg, aus Hessen und Mecklenburg-Vorpommern. Am Freitagmittag haben sich etwa 400 Demonstranten auf dem Platz der Republik versammelt, um für die Anerkennung der Taubblindheit als eigenständiger Behinderung einzutreten – eine Premiere nicht nur für Deutschland: „Es ist weltweit die erste Demonstration taubblinder Menschen“, sagt Irmgard Reichstein, die Vorsitzende der Stiftung Taubblind Leben.
Reichstein ist mit ihrem Bruder aus Hessen angereist. Er wurde gehörlos geboren, in der Pubertät führte eine Erbkrankheit zu seiner Erblindung. Bei den meisten Betroffenen ist es wie bei ihm so, dass sie einen der beiden Sinne erst im Laufe des Lebens verlieren. Reichstein ist auch als Erwachsener auf die Hilfe von Eltern und Freunden angewiesen. „Hilfsmittel und Behandlungen finanzieren wir selbst“, sagt seine Schwester, „die Abhängigkeit von der Familie ist enorm. Wir werden von der Politik allein gelassen, und das kann nicht sein.“
Taubblindheit ist eine seltene Behinderung, in Deutschland sind nach Schätzungen etwa 6000 Menschen in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Die Dunkelziffer ist hoch. Zum einen, weil keine amtliche Statistik geführt wird, zum anderen, weil Taubblinde große Probleme haben, am öffentlichen Leben teilzunehmen und ihre Anliegen zu artikulieren. Schon der Besuch der Demonstration ist für taubblinde Menschen eine logistische Meisterleistung – außerhalb der eigenen vier Wände brauchen die meisten die Hilfe eines anderen, um überhaupt zurechtzukommen.
Die für den Alltag wichtigsten Sinne – Sehsinn und Gehör – sind stark eingeschränkt, mit entsprechenden Folgen für die Mobilität und die Kommunikation mit den Mitmenschen. Ein Gespräch mit einem Taubblinden läuft über den Tastsinn – Wörter und Sätze werden durch Berührungen mit den Fingerspitzen auf Handfläche und Finger des Gesprächspartners „aufgemalt“. Dieses Verfahren wird nach dem Erfinder Hieronymus Lorm auch „Lormen“ genannt.
Die Kundgebung gibt einen Eindruck davon, wie schwierig alltägliche Dinge sein können. Eine Frau redet, neben ihr übersetzen Gebärdendolmetscher. Im Publikum wird Händchen gehalten – mit schnellen Fingerstrichen „lormen“ die Begleiter die Rede für die Taubblinden. Viele Demonstranten haben sich mit Bändern die Augen verbunden, andere tragen schwarze Luftballons als symbolische Eisenkugeln an den Fußknöcheln: Die Politik nimmt uns in Isolationshaft, so lautet die Botschaft der Demonstranten.
Gefordert wird, dass Taubblindheit gesellschaftlich anerkannt, mit einem eigenen Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis und einem eigenen gesundheitlichen Leistungskatalog versehen wird. Bisher werden Taubblinde je nach Grad ihrer Behinderung als gehörlos, blind oder beides eingestuft. „Taubblindheit ist nicht nur die Summe von Blindheit und Gehörlosigkeit“, sagt allerdings Volker Lenk vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. „Die Probleme der doppelten Einschränkung addieren sich nicht nur, sondern potenzieren sich.“ Deshalb müsse die Behinderung Taubblindheit endlich institutionalisiert werden, sagt Lenk: „Die Betroffenen werden sonst nicht richtig versorgt.“
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