Die Station meines Lebens: Täglich in den Urlaub
Ein bisschen Kleinstadt und ein wenig Toscana-Flair erleben Reisende am Bahnhof Lichterfelde-West. Eine Liebeserklärung.
Redaktionsschluss, Feierabend. Jetzt rasch hinab vom Verlagshaus zur S1 im Anhalter Bahnhof. Der Zug rumpelt heran, los geht’s zu meinem fast alltäglichen Urlaubsort.
Knapp 16 Minuten dauert die Fahrt. Ankunft in Lichterfelde-West. Nun durch die Unterführung zum Bahnhofsvorplatz. Tief durchatmen: Ja, auch das bietet Berlin, ein bisschen Kleinstadtkulisse mit Fachwerkhäusern wie in Wernigerode im Harz und dazu – als weltstädtische Würze – ein wenig Toskana-Flair.
Mediterrane Gefühle weckt das Bahnhofsgebäude im Stil eines Landhauses der italienischen Renaissance. Gelber Klinker, Rundbögen und am Eingang zur Halle der Campanile en miniature. Die 1872 eröffnete, repräsentative Station sollte die gründerzeitliche Villenkolonie Lichterfelde-West ans Bahnnetz anschließen.
Seit 20 Jahren pendele ich auf dieser Strecke zum Tagesspiegel. Seit gut 15 Jahren lächelt mir die vietnamesische Blumenfrau in der Unterführung zu, egal ob ich renne oder bummele. Früh am Morgen arrangiert sie Sträuße, abends ist sie noch immer emsig und grüßt zurück.
Es ist die Vertrautheit, die mich hier auffängt. Sage keiner, einen echten Kiez finde man nur in den angesagten Bezirken! Die Leute nennen den Kiez am Bahnhof ihr „Dörfchen“. Links unser Buchladen „Bodenbender“, wo viele Lichterfelder noch bewusst persönlich einkaufen.
Selbst mein Pudel Tico ist literarisch interessiert und flitzt zu „Bodenbender“. Ach ja, die Leckerchen ...
Die Welt der Händler ist hier noch in Ordnung. Wer kennt sie nicht, die Obstverkäufer, z.B. Ali, der Steigen wuchtet, während wir zur Bahn eilen.
Oder Inga, die Floristin von „Stilart“, die Blumen bindet, als wollte sie jedes Boquet sich selbst schenken.
Etwas weiter, vorbei am ewig schmunzelnden Akkordeon-Spieler, steht die Tür zu „Alfred Osche, Haushaltswaren“ bereits in der vierten Generation offen.
Auch gastronomisch gibt’s nichts zu meckern, vom Biergarten bis zu „Eiskimo“, wo Kinderscharen plus Eltern in Liegestühlen schlecken.
Station: Lichterfelde West
Linien: S-Bahn S1, Bus 188, M11, N88
Nachbarhaltestelle: Botanischer Garten
Fahrzeit bis Alexanderplatz: 34 Minuten mit einmal Umsteigen
Nach Lichterfelde-West streben derzeit junge Familien. Es ist die Generation 30 plus, die zwar im Bio-Supermarkt am Bahnhof gerne einkauft und sich gehobene Preise leisten kann, der aber die hippe Szene in Prenzlauer Berg auf den Keks geht.
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Viele Eltern sind berufstätig, pendeln mit mir in der S1 und lesen unterwegs erfreulich eifrig Zeitungen – allerdings fast nur noch online.
Gleichwohl kommt der Pressekiosk am Bahnhof gut über die Runden. Vielleicht, weil hier für viele Lichterfelder wie für mich der alltägliche Urlaub beginnt und damit die Freude, auch mal eine gedruckte Zeitung lustvoll zu entfalten.
In der Kolumne "Die Station meines Lebens" schreiben Tagesspiegel-Autorinnen und Autoren über Berliner Haltestellen, die sie geprägt haben.