Glosse: Warum ich Manufactum hasse
Schuhe, Kaffee, Schokolade, Neonröhren - alles gibt es in Berlin inzwischen in Dutzenden von "Manufakturen". Das Handgemachte hat Konjunktur, aber auch explosive Nachteile, meint unsere Autorin. Eine Streitschrift gegen die falsche Sehnsucht nach der époque Vordiscounter.
Neulich flatterte wieder der Katalog von Manufactum ins Haus. Nein, halt. Von Flattern kann keine Rede sein. Bei 400 Seiten ist wohl „einschlagen“ das bessere Wort. Ich habe in meinem ganzen Leben erst einmal etwas bei Manufactum bestellt, das war eine Verzweiflungstat vor ein paar Jahren, kurz vor Weihnachten, eine Flasche Balsamico für meine Tante Ulrike (12 Euro). Seitdem hat mich das Versandhaus mit einem Vielfachen des Balsamicowertes an Papier beglückt, neben dem Hauptkatalog bekomme ich zum Beispiel auch den „Gartenbrief“ und den Bekleidungskatalog. Ich habe keinen Garten. Und ich trage keine Tiroler Filzpantoffeln. Doch das weiß Manufactum nicht, vermutlich aus demselben Grund, aus dem die ihre Werbung in Kilos und nicht in Bytes verschicken. Offenbar gilt das Prinzip des Handgemachten auch intern und die Marketingmenschen verwalten die Kundendaten statt mit einer Software mit Hilfe von Artikel Nummer 76970915 (Caran d’Ache Ecridor Füllfederhalter, 170 Euro) und Artikel Nummer 71406915 (Protokollbuch Elefantenhaut, Lesebändchen, Einband Halbleinen, 19 Euro).
Babys aus der Manufaktur?
Die Konjunktur ihrer Idee in Berlin und die Tatsache, dass ich hier lebe, scheint das unökonomische Werben von Manufactum um meine Gunst zu rechtfertigen. In der Hauptstadt kann man inzwischen alles wieder von Hand gemacht kaufen. Es gibt Zigarettenmanufakturen, Schuhmanufakturen, Schokoladenmanufakturen, Kaffeemanufakturen, eine Neonröhrenmanufaktur und eine „Babymanufaktur“ (nein, die machen in Wirklichkeit natürlich keine Babys, sondern handgemachte Möbel für den stilbewussten Säugling). Ich lehne das ab. Ich hege eine tiefe Abneigung gegen alles Handgemachte. Und das hat zwei Gründe.
Der Holunderbeerensirup explodierte
Der eine ist konkret-traumatisch und hat seinen Ursprung auf Usedom. Dort waren wir im Urlaub und während einer langen Fahrradtour durch die innere Einöde der Insel wurde der Mann an meiner Seite abrupt gestoppt von einem handgeschriebenen Schild, das handgemachte regionale Spezialitäten ankündigte. Während er sehr handgemacht aussehende Fleischwaren verkostete, kaufte ich aus Langeweile zwei Fläschchen Holunderbeerensirup. Drei Wochen später saß ich, zurück in der Stadt, an meinem Schreibtisch, als in der Küche die Geräusche einer Explosion zu hören waren. Leider hatte der Usedomer Hofladenbetreiber beim Selbstmachen des Sirups das Sterilisieren der Flasche vergessen, so dass der Sirup gärte und schließlich das Glas zum Platzen brachte. Wir strichen unsere dunkelrot gesprenkelte Küche einmal. Wir strichen sie ein zweites Mal. Nach dem fünften Überstreichen war die Wand langsam wieder weiß. Eine Woche später explodierte der Holunderbeerensirup in der Wohnung unserer Freunde, weil sie ihn trotz aller Warnungen nicht sofort entsorgt hatten.
Nostalgisches Schwärmen für Naturborsten-Rasierpinsel
Das wäre wahrscheinlich nicht passiert, hätte es sich um einen guten, in einer sterilen Industrieanlage unter der Aufsicht von Lebensmittelchemikern und Gesundheitsbehörden hergestellten Holunderbeerensirup gehandelt. Und das ist der zweite Grund, warum ich Handgemachtes ablehne. Die vielen Manufakturen treffen den Nerv der Zeit, weil sie irgendwie nachhaltig und öko sind und gleichzeitig was für Gourmets und Schöne-Dinge-Liebhaber. Junge Großstädter hegen plötzlich nostalgische Gefühle für eine vorindustrielle Naturborsten-Rasierpinsel-Zeit, die sie selbst nie erlebt haben. Manufakturen sind der Ausdruck des Wunsches nach einem paradiesischen ökonomischen Urzustand, der époque Vordiscounter, als im Tante-Emma-Laden an der Ecke eine gut bezahlte Fachkraft Äpfel vom Bauern im Hinterland verkaufte. Dabei wird vergessen, dass Standardisierung auch Vorteile haben kann und die industrielle Fertigung von Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln vieles für viele überhaupt erst bezahlbar gemacht hat. Manufakturen sind undemokratisch. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin gegen krebserregende Plastikweichmacher in Schnullern und Glutamat in der Tomatensoße. Aber ich werde mein Müsli nicht mit einem mit dem Faustkeil geschnitzten Holzlöffel (29,90 Euro) essen.
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