Verwunschene Orte: Expeditionen in die Nachbarschaft
Den Dorfkern von Alt-Lübars, den Steglitzer Bierpinsel, das Ernst-Thälmann-Denkmal in Prenzlauer Berg – das kennt man. Aber die Häscheninsel in Wilmersdorf oder den Weddinger Madenautomat? Ein Buch stellt besondere Winkel der Stadt vor.
Der Rundblick von hier oben ist spektakulär. Weit über Kreuzberg, Neukölln und Mitte hinaus. Lichtdurchflutet und kuschelig warm ist es noch dazu. Und die Preise sind so solide wie das Speisenangebot. Allerdings trüben lautes Geschirrgeklapper und ein intensiver Duft nach Rotkohl die funktional bemöbelte Idylle. So wie die Brötchenbrösel auf dem Tisch.
Das soll ein Ort sein, den man gesehen haben muss? Jawohl, nicken gleich drei Köpfe. Der blonde gehört Lucia Jay von Seldeneck. Sie liebt Kantinen, sagt sie. Die frühstückenden Rentner, die Mittag essenden Angestellten, das markige „Mahlzeit!“ an der Essensausgabe, das Leben, das nach Maggi-Würze schmeckt. So hat es die Caféteria im zehnten Stock des Bürgeramts Kreuzberg als einer von „111 Orten in Berlin, die man gesehen haben muss“ in den neuen Stadtführer dieses Namens geschafft. Kommenden Mittwoch ist Buchpremiere im Heimathafen Neukölln.
So ganz null acht fuffzehn ist die Ortsauswahl des Autorinnentrios nicht. Kantinenfreundin Seldeneck, Redakteurin Carolin Huder und Fotografin Verena Eidel sind für die Berliner Ausgabe einer vom Emons-Verlag in Köln auch für andere Städte und Regionen aufgelegten Buchreihe kreuz und quer durch alle zwölf Bezirke gestreift und haben merkwürdig schillernde Perlen gehoben. Dass ausgerechnet eine doofe Currywurst als Quasi-Wahrzeichen der Stadt auf dem Buchdeckel prangt, ist beim Durchblättern schnell verziehen. Jedem der Orte sind zwei Seiten gewidmet: eine Seite Text und ein Foto. Ortsbeschreibung, Atmosphäre, ein paar Daten oder Geschichten, mehr geht da kaum. „Wir wollten auch nicht alles über einen Ort erzählen“, sagt Carolin Huder, die zusammen mit den beiden anderen rund 130 Orte persönlich ausgekundschaftet hat. Die Leser sollen die Chance bekommen, die Plätze selbst für sich zu entdecken, wünschen sich die drei. Deswegen habe sie manchmal auch nur Ausschnitte des jeweiligen Ortes fotografiert, sagt Verena Eidel. Es sei weder ein Geschichtsbuch noch ein normaler Reiseführer, sondern eine subjektive, keiner Kategorie folgende Auswahl. Ihre persönlichen Favoriten halt.
Trotzdem sind alle Facetten der Stadt enthalten: Geschichte, Natur, Gastronomie, Architektur, Infrastruktur. Von Klassikern wie dem Jagdschloss Grunewald, dem Ernst-Thälmann-Denkmal in Prenzlauer Berg, dem Kino Capitol in Dahlem oder der Parkeisenbahn Wuhlheide bis zu Geheimadressen wie dem Prinzessinnenzimmer im Marzahner Plattenbau, dem Geisterbahnhof Siemensstadt, dem Straßenbahnfahrsimulator der BVG in Lichtenberg oder dem romantischen Mauervorsprung an der Friedrichsbrücke in Mitte. Einmal quer durchs Alphabet vom Dorfidyll in Alt-Lübars bis zur letzten Wohnung der Kommune 1 in einer Moabiter Backsteinremise.
In dem Gemäuer mieten sich heute gern Touristen ein. Die trafen Seldeneck, Huder und Eidel, die sich bei einigen Expeditionen nach dem Prinzip „zwei klettern über den Zaun, eine steht Schmiere“ aufteilten, auch an anderer Stelle. Etwa in der morbiden, seit 1991 verwaisten irakischen Botschaft in Pankow. Da sei gleich nach ihnen eine französische Fotografin rein, die überall auf der Welt verlassene Orte knipst, erzählt Seldeneck. Mehr gegruselt als hier oder im pittoresk verrotteten Ballhaus Grünau hat sie sich allerdings ganz woanders. Auf der Häscheninsel, die ebenso wie der von einem Weddinger Angelladen nach Ladenschluss mit Larven bestückte Madenautomat in der Tegeler Straße zu den bizarren Tipps gehört. Die Insel der Wildkaninchen liegt auf der Kreuzung Bundesallee und Hohenzollerndamm. Da leben sie unbehelligt auf der vom Verkehr umdonnerten, komplett unterhöhlten Mittelinsel. Und was ist daran gruselig? „Dass Leute ihnen Möhren, Trockenfutter und Kaninchenstreu vor den Bau legen“, sagt Seldeneck und schüttelt sich.
Man blickt halt auch in Abgründe, wenn man die abseitigen Winkel seiner Heimatstadt abgrast. Oder in den Himmel, wie auf dem Kletterbaum im Bürgerpark Pankow. Den haben Eidel, Huder und Seldeneck, die in Zehlendorf oder Charlottenburg groß geworden sind und alle am selben Theater, dem Heimathafen Neukölln arbeiten, selbst bestiegen. Sie sind am Teufelsberg Schlitten gefahren, haben auf der als Flirtbörse verschrieenen Tartanbahn im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark gejoggt und sind im Tiefschnee zur Berberitze an der Weddinger Panke gestapft, wo man im Herbst rote Beeren als Marmeladenbeigabe ernten kann. Ein Tipp ihres Vater, sagt Seldeneck. „Um die zu finden, sind wir unglaublich rumgeirrt“, amüsieren sich die drei.
Muss ein ziemlicher Spaß gewesen sein, 110 Orte plus der Caféteria im Bürgeramt Kreuzberg zu finden. Natürlich bleibt auch was geheim. „Ich kenne noch einen wirklich besonderen Platz", sagt Eidel. Doch den verrät sie einfach nicht.Lucia Jay von Seldeneck, Carolin Huder, Verena Eidel: 111 Orte in Berlin, die man gesehen haben muss. Emons Verlag, 240 Seiten, 12,90 Euro. Die Buchpremiere mit Berlin-Quiz und den Runaway-Brides findet am 26. Oktober, 20 Uhr, statt, im Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Str. 141, Eintritt: 3 Euro.
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