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An der Leonhardtstraße zwischen dem Amtsgerichtsplatz und dem Stuttgarter Platz, genannt Stutti, zeigt sich der Westen von seiner angenehmsten Seite.
© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Lebensadern (13): Ein Dorf in bester Lage

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir den Lebensadern Berlins. In der Leonhardtstraße in Charlottenburg lässt es sich entschleunigt leben.

Neben dem Dollinger, ein Stück die Straße hinein, gibt es jetzt also ein österreichisches Restaurant, „Josef“, mit Schnitzel und Backhendl im Angebot. Davor war es ein Café mit Konditorei. Davor eine kubanische Cocktailbar. Davor noch etwas anderes. Alle paar Jahre wechselt es. Ansonsten ändert sich hier fast nie etwas, nur dieser eine Laden. Mit dem Haus ist vielleicht irgendwas, womöglich eine negative unterirdische Wasserströmung. Oder zu viel Schatten.

Einmal habe ich versucht zu zählen, wie viele Völker in der Leonhardtstraße mit Läden oder Restaurants vertreten sind, ich weiß die Zahl nicht mehr, es waren ungefähr zwanzig. Moment mal ... der österreichische Imbiss, der schon vor dem Restaurant da war, der Inder, der Chinese, die finnische Kindermode, die französische Kindermode, die britische Feinkost, die italienischen Bücher, das luxemburgische Bistro, die marokkanischen Möbel, der Spanier liegt ja eigentlich schon am Stuttgarter Platz … doch, es waren fast zwanzig. Dazwischen so nützliche Orte wie ein Supermarkt, ein guter Buchladen, ein Kinderladen, ein Zeitungsladen und ein Weinhändler. Nicht zu vergessen: die Logopädin, das Reformhaus und der Homöopath! Die Straße ist kurz, bitte sehr, ich habe es nicht gemessen, ich schätze: zweihundert Meter. Herr Leonhardt war ein preußischer Justizminister von offenbar nur mittelgroßer Bedeutung.

Man muss von hier aus nirgendwo hingehen. Man kann hier eigentlich sehr gut sein gesamtes Leben auf diesen paar Metern verbringen, von der Hausgeburt über den Kinderladen und die Logopädie bis zur Fußpflege der reiferen Jahre und der letzten Flasche Crémant d’Alsace, am Ende könnte man illegal seine Asche in einem der bezaubernden Hinterhofgärten verstreuen lassen. Das ist dann ein behagliches, angenehmes Leben gewesen, und trotzdem nicht einmal übertrieben langweilig. Auf dem breiten Bürgersteig spielt sich ja immer was ab, sogar Betrunkene kommen vor, dies aber selten.

Wahrscheinlich schlägt hier das wahre Herz von Charlottenburg, zwischen dem Amtsgerichtsplatz und dem Stuttgarter Platz, genannt Stutti, der hier aus Straßencafés voller Eltern und einem Spielplatz voller Kinder besteht. Die Nachtbars und die Kaufhäuser und überhaupt alles weniger Schöne befinden sich am anderen Ende des Stutti, das ist eine völlig andere Welt. Man hat ein bisschen Geld, ein bisschen Stil, ein bisschen Kultur, von allem genug, aber nicht so viel, dass es angeberhaft oder protzig würde.

Es wohnen auch recht viele Literaten und Medienleute rund umher, und wenn einer ein neues Buch herausbringt, stellt er es in der Buchhandlung den Nachbarn vor. Der eine oder andere Literat hat auch schon das eine oder andere über diese Gegend geschrieben, das bleibt nicht aus. Vor Jahren erzählte mir die Buchhändlerin, dass einer der Literaten, ich habe vergessen, welcher, die Gegend als ein Dorf beschrieben hat, ein Dorf mitten in der Stadt, mit unsichtbaren Grenzen, die von den Bewohnern selten überschritten werden – eine davon ist die Kantstraße –, mit dem Stutti als Dorfplatz und der Leonhardtstraße als Dorfstraße.

Ich glaube, dass man das, was Berlin von anderen Städten vergleichbarer Größe unterscheidet und was die Anziehungskraft Berlins ausmacht, an wenigen Orten so genau empfinden kann wie in der Leonhardtstraße. Der Mensch will ja eigentlich immer alles gleichzeitig, er will Beständigkeit und Abwechslung, Abenteuer und Sicherheit, Schwarzbrot und Kaviar. Hier, in dieser Gegend, hat er ein weltläufiges Dorf. Es ist ruhig, es ist vertraut, die Wege sind kurz und man kann sich gegenseitig ohne Hast beim Älterwerden zuschauen, aber es ist nicht eng oder eintönig oder gar repressiv, wie die echten Dörfer es manchmal sein können.

Vieles hängt mit den breiten Bürgersteigen zusammen. Früher gab es in der Leonhardtstraße Vorgärten, wie es bei den Berliner Bürgerhäusern üblich war und wie man es in Friedenau und anderswo noch häufig findet. Die Vorgärten wurden, falls ich richtig informiert wurde, in den siebziger Jahren weggeräumt, damals natürlich eine umstrittene Maßnahme. Es hat sich aber als gut herausgestellt, denn man hat den gewonnenen Platz nicht für Parkplätze verwendet, sondern zur Schaffung gigantischer Bürgersteige. Sie sind der Ort, auf dem die Stühle der Bistros, Cafés und Restaurants stehen, wo Kinder spielen oder Rad fahren, wo der amerikanische Fahrradmann im Sommer die Fahrräder repariert, wo Geschäftsinhaber vor ihren Geschäften in der Sonne sitzen, wo regelmäßig das Straßenfest gefeiert wird, ein extrem schönes und behagliches Straßenfest selbstverständlich. In Paris oder London gibt es in so einer Gegend keine solchen Bürgersteige – damit geht’s schon mal los.

Die Leute hier im Dorf haben Geld, aber sie sind, in den meisten Fällen, nicht wirklich reich. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der Reiz Berlins besteht bekanntlich darin, dass diese Stadt mit den finanziellen Mitteln und dem ästhetischen Ehrgeiz des Großbürgertums errichtet wurde, hier ungefähr um 1900 herum, dann aber jahrzehntelang für den Kapitalismus uninteressant oder unerreichbar war. Die DDR konnte solche Häuser und solche Straßen nicht bauen, West-Berlin genauso wenig. Man hatte also die bürgerliche Stadt und die großbürgerliche Wohnung, aber ohne den verschärften Zwang zum Geldverdienen und ohne die Dynamik der Kapitalakkumulation. Das Beste aus beiden Welten. So sind diese Dörfer entstanden, Dörfer in bester Lage.

Im Sommer saß man im Dollinger oder im Lentz, im Herbst sah man den Laternenumzügen der zahlreichen Kinderläden zu, an Silvester brannte der Chinese sein sagenhaftes Feuerwerk ab, und im Frühjahr waren das Dollinger und das Lentz immer noch da. Nur dieser eine Laden, der Laden kurz vor dem Stuttgarter Platz, der florierte nie. Aber auch darauf konnte man sich verlassen.

Wir wohnten hier lange, das Kind wurde groß, dann wurde das Haus von der schwäbischen Familie, der es seit Generationen gehörte, an eine Düsseldorfer Immobiliengesellschaft verkauft. Die Mietwohnungen werden nach und nach in sehr teure Eigentumswohnungen umgewandelt. In den Hinterhof, in dem als erste Maßnahme die uralte Kastanie gefällt wurde, kommen Edelstahlbalkons und ein Aufzug. In den Anzeigen wird mit dem Reiz der Leonhardtstraße geworben, auch auf Englisch.

Wir sind weggezogen, das hatte sicher viele Gründe. Es bewegt sich jetzt alles, das Rad dreht sich, erst langsam, dann schneller, und auch man selber bewegt sich, muss ja. Die meisten Wohnungen, hört man, werden von reichen Russen gekauft. Man wird bald noch öfter Russisch hören in der Leonhardtstraße. Ein russischer Masseur, dem der Ruf eines Wunderheilers vorausgeht, hat sich bereits niedergelassen. Vielleicht eröffnet ja ein russisches Restaurant. Und am Stuttgarter Platz gibt es auch schon einen russischen Lebensmittelladen.

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