Ulrich Tukur: Die Quadratur der Greise
Schauspieler, Sänger, Hundehalter: Ulrich Tukur spielt ab heute mit seinen Rhythmus Boys mal wieder im Tipi am Kanzleramt - mit Liedern der zwanziger bis vierziger Jahren und Eigenkompositionen. "Immer asynchron zur Zeit" - so beschreibt sich Tukur selbst.
Verdammt, der groß für die Show angekündigte, angeblich von einer Rakete der königlich dänischen Weltraumbehörde entfachte Zeltbrand fällt aus. War Ulrich Tukur und seinen drei Rhythmus Boys technisch dann doch zu heikel, da reichen anderthalb Probentage nicht. Schlecht fürs sensationslüsterne Publikum. Doch gut fürs Tipi am Kanzleramt, wo die seltsame Tanzkapelle ab heute mit ihrem neuen Programm gastiert: „Ein unmöglicher Abend“.
So eine Enttäuschung: Gerät also am Premierenabend niemand mehr in Lebensgefahr? Doch, lächelt Ulrich Tukur süffisant, der eine oder andere könnte ertrinken – durch die Wasserfluten der venezianischen Gondelnummer. Ertrinken sei eh ein schönerer Tod als Verbrennen. Damit kennt sich Ulrich Tukur, 52, Musiker, Entertainer, Wahlvenezianer, Theaterstar, Autor, dazu hier und international einer der am meisten beachteten deutschen Filmschauspieler aus. Und zwar nicht erst seit den Abräumern „Das Leben der Anderen“ und „Das weiße Band“.
„Der Tod kommt unbemerkt“, sagt er und erzählt, wie er ihn schon zweimal getroffen hat. Einmal im Sog der wilden See vor Malibu Beach, als er in L.A. mit Steven Soderbergh und George Clooney den Science-fiction-Film „Solaris“ drehte. Und ein anderes Mal in einem Riesenwasserbecken auf Malta, wo ihn beim Dreh der Walser-Verfilmung „Ein fliehendes Pferd“ ein simulierter Sturm vom Segelboot fegte. Da drohten ihn im schweren Wollanzug die von Diesel verseuchten Wellen des künstlichen Bodensees zu verschlingen. „Ich dachte, jetzt es ist vorbei“, sagt er. Einfach so, aus Leichtsinn. „Weil ich das nicht geprobt oder nach einem Stuntman gefragt hatte.“ Tukur schnorrt erst mal eine Zigarette und Feuer.
Daran mangelt es ihm und der ältesten Boygroup der Welt sonst nicht. So nennen sich die seit 1995 hingebungsvoll und eigenwillig das Liedgut der zwanziger bis vierziger Jahre wie auch Eigenkompositionen bearbeitenden Rhythmus Boys. „Drei Pölser aus Aarhus“ heißt ihre aktuelle, dänische Hitnummer. „Das Ganze ist getrieben von buntem Unsinn“, sagt Tukur, der gerne einer tiefen Schwärze anhängt.
Mit 15 kommen die Rhythmus Boys nun aber in die Pubertät. In ein paar Wochen geht es nach Italien. „Da wollen wir neue Songs ausbaldowern: schräger, persönlicher, ironischer.“ Deutsche Songs der Dreißiger oder Vierziger immer wieder neu eingespielt, sei bei aller Liebe doch nur aufgegossener Kaffee. „Die Quadratur der Greise“ sei der Arbeitstitel des neuen Albums, spaßt der Frontmann.
Dass er das Lebensgefühl und die Musik der Jahre von 1920 bis 1948 liebt und häufig historische Figuren spielt, findet der lässige, sehr heutig wirkende Plauderer unterm Sonnenschirm im Tiergarten folgerichtig. „Ich brauche die Vertikale“, sagt Tukur, der mal Geschichte studiert hat, als Filmvorbereitung gerne mit Zeitzeugen spricht und kürzlich erst ein Duett mit der 91-jährigen Margot Hielscher gesungen hat. Ganz bewusst auf dem Rücken vorheriger Generationen zu leben, schaffe Respekt und Identität. Als reinen Nostalgiker sieht er sich trotzdem nicht. „Ich war einfach immer asynchron zur Zeit, irgendwie hinten dran.“
Das kann mit den Jahren ein Vorteil sein: Muss so ein amodischer, zeitloser Typ beruflich und privat überhaupt das Alter fürchten? Tukur lacht auf. Beruflich kämen sicher noch ein paar gute Jahre, feixt er. Aber privat mache es ihm durchaus Angst, wie schnell die Jahre vergingen. Allein der körperliche Verfall. „Früher konnte ich zwei, drei Flaschen Wein trinken und hinterher noch sehr gut Hamlet spielen.“ Das ist sowieso nicht mehr zu erwarten, mit dem Theater ist Tukur schon länger durch.
Geschichte, Gegenwart, politische Bezüge fließen wie nebenbei ins Gespräch, doch ein Weltverbesserer ist Entertainer Tukur nicht. „Ich war immer ein Spieler, der Spaß am Quatsch machen hat.“ Den teilt er mit den Freunden Ulrich Mayer, Günter Märtens und Kalle Mews von den Rhythmus Boys. Die Show beginne mit „Guten Abend, meine Damen und Herren“ – der Rest sei eher unklar.
Musik und Schauspielerei hängen für Ulrich Tukur nicht nur deswegen zusammen, weil Sprechen musikalisch ist. „Letztlich hat alle Kunst mit Angst zu tun, mit dem Wunsch, die Absurdität des Lebens erträglich zu machen.“ Dafür spannt Tukur auch seinen wolligen Hund Toto ein, der gerade um die Ecke biegt. Heute Abend spiele der einen Löwen. Ach was? Ja, sagt Tukur, hebt den Finger und fragt: „Was ist die Wurzel aus neun?“ Toto kläfft drei Mal. Verstehe: ein zählender Hund ist absurd, und ein Künstler wie Ulrich Tukur macht das Leben erträglich.
Tipi am Kanzleramt, Große Querallee, Tiergarten, 29. Juni bis 3. Juli, Di–Sa 20 Uhr, So 19 Uhr, Tel. 883 15 82
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